Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Vom Fallverstehen zur richtigen Hilfe
Inhalt
"Prozesse des Verstehens und der Diagnose in der sozialen Arbeit sind für die verantwortlichen Fachkräfte immer eine emotionale Anstrengung, zum Teil auch eine erhebliche Zumutung.
Perspektivübernahme und Identifikation gelingen nicht ohne Mit-Fühlen und dies bedeutet meist auch, nicht ohne Mit-Leiden.
Die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, wie es einem anderen Menschen in Not und Bedrängnis geht, wie sich Be-drohung und seelische Verletzungen "anfühlen", ist der Kern aller sozialpädagogischen Verstehensanstrengungen. (…)
Von den Methoden und Instrumenten deutender oder diagnostischer Verfahren wird daher häufig erwartet, sie könnten von diesen Anstrengungen entlasten und den Fachkräften eine von der Person und Organisation unabhängige, die persönliche und berufliche Biographie und Situation nicht berührende Erkenntnis über einen anderen Menschen eröffnen.
Beurteilungen und Diagnosen könnten, so die Erwartung, wie technische Prozesse ablaufen und zu ‚objektiven' und ‚richtigen' Ergebnissen führen.
Wie wenig diese Hoffnung trägt, spiegelt die häufig wiederkehrende Ent-Täuschung in der Auseinandersetzung mit professionellen Methoden sozialer Arbeit - und doch kann auf Methoden, also auf systematisches und regelgeleitetes Arbeiten nicht verzichtet werden."
(Prof. Dr. Christian Schrapper, S. 136)
In der Fachdiskussion über Diagnostik wird immer wieder betont, dass die Kinder- und Jugendhilfe bisher keine eigenen jugendhilfespezifischen Standards und Verfahren entwickelt hat, die in der Praxis Anwendung finden (könnten) und dass es große Defizite im Methodenwissen gibt. Ziel der Tagung war es deshalb, Antworten darauf zu finden, wie eine praxisorientierte jugendhilfespezifische Diagnostik aussehen sollte und wie Hilfebedarfe besser und genauer geplant werden können, um Fehlentscheidungen weitestgehend zu vermeiden. Es wurde diskutiert:
- was jugendhilfespezifische sozialpädagogische Diagnostik ist/ sein sollte,
- was / welches Instrumentarium hilfreich für die eigene Arbeit ist,
- welche Kriterien und Standards eine gute sozialpädagogische Diagnostik ausmachen,
- welche professionellen Kompetenzen Fachkräfte in der Jugendhilfe brauchen, wie diese gestärkt und deren Handlungssicherheit erhöht werden können,
- wie sozialpädagogische Diagnostik auf dem Weg zur "richtigen Hilfe" im Zusammenwirken mit anderen Professionen und im Team praktiziert werden sollte
- wie junge Menschen und ihre Familien angemessen an der Hilfeplanung beteiligt werden können.
Im Verlauf der Tagung wurden hierzu zahlreiche Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen vorgestellt.
Aus dem Inhalt
- Vorwort:
Bruno Pfeifle, Leiter des Jugendamtes der Stadt Stuttgart, und Kerstin Landua, Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe, Verein für Kommunalwissenschaften e.V., Berlin - Fachreferate
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- "Diagnostik" als Grundlage für fachlich begründete Hilfeplanung: Inhaltliche Anforderungen und angemessene Semantik
Prof. Dr. Joachim Merchel, Fachbereich Sozialwesen, Fachhochschule Münster - Anforderungen an eine sozialpädagogische Diagnostik, exemplarisch am Beispiel des Forschungsprojektes "Sozialpädagogische Diagnosen familiärer Notlagen und Hilfekonzepte"
Prof. Dr. Uwe Uhlendorff, Professor am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit der Universität Dortmund - Familien (sich) Veränderungen zutrauen. Das Konzept der Resilienz und seine Bedeutung für pädagogisches Handeln
Dr. Marie-Luise Conen, Leiterin des Context-Instituts für systemische Therapie und Beratung, Berlin
- "Diagnostik" als Grundlage für fachlich begründete Hilfeplanung: Inhaltliche Anforderungen und angemessene Semantik
- Arbeitsgruppen: Erfahrungswerte, angewandte Methoden und Konzepte
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- 1: Sozialpädagogische Diagnosen für Kinder, Jugendliche und Familien: Berichte aus der Praxis: Stephan Cinkl, Strausberg, und Michael Kluttig, Hamburg
- 2: Die sozialpädagogische Diagnose. Rahmenvorgaben des Deutschen Vereins: Karl-Heinz Weyrich, München
- 3: Zugang zu Diagnostik und Hilfeplanung in einer Erziehungsberatungsstelle: Wer definiert, was richtig ist?: Dr. Eginhard Walter, Berlin
- 4: Ein Modell der Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Dagmar von Hermanni, Leipzig
- 5: Fallrekonstruktive Familienhilfe - Ein Forschungsprojekt der Friedrich-Schiller-Universität zum Genogramm; PD Dr. Karl-Friedrich Bohler, Frankfurt am Main/Jena
- 6: Evaluation der Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen des Bayerischen Landesjugendamtes: Hans Hillmeier, Sigrid Scherer und Birgit Vietzke, München
- Fachreferate
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- Konzept und Bausteine einer Sozialpädagogischen Diagnostik
Prof. Dr. Christian Schrapper, Erziehungswissenschaftler, Seminar Pädagogik, Universität Koblenz-Landau, Koblenz - Strengths Model und Ressourcencheck: Philosophie und Technik zum Entdecken von Stärken
Wolfgang Budde und Prof. Dr. Frank Früchtel, Dozenten am Fachbereich Soziale Arbeit der Otto-Friedrich-Universität Bamberg - Psychosoziale Diagnostik in der niederländischen Kinder- und Jugendhilfe
Dr. Peter M. van den Bergh, Fachbereich Erziehungswissenschaften, Institut für Orthopädagogik, Abteilung Kinder- und Jugendhilfe, Universität Leiden
- Konzept und Bausteine einer Sozialpädagogischen Diagnostik
- Inputreferate in den Arbeitsgruppen: Konsequenzen für die Hilfeplanung
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- 1: Partizipation - Training zum Ressourcencheck: Wolfgang Budde und Prof. Dr. Frank Früchtel, Bamberg
- 2a: Dokumentation - Diagnostische Erkenntnisse in der Jugendhilfe als Grundlage für die Leistungsgewährung und die Hilfeplanung: Dagmar von Hermanni, Leipzig
- 2b: Zur Bedeutung der Dokumentation in der Bezirkssozialarbeit: Hans Hillmeier, München
- 3: Kooperation - Das multidisziplinäre Team in der Jugendhilfe als Voraussetzung für Erkennen: Sabine Schaefer, Stuttgart
- 4: Wirtschaftliche Jugendhilfe - Feststellung von Erforderlichkeit und Geeignetheit des diagnostischen Bedarfs für die Umsetzung in Leistungskategorien des SGB VIII: Die Notwendigkeit zur Beteiligung anderer Fachkräfte des Jugendamtes: Anton Dauser, Aalen
- 5: Das Diagnosemodell München: Silke Vlecken, München
- Literaturhinweise
Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe, Bd. 51, 2005, deutsch, 262 S., Deutsches Institut für Urbanistik 2005