Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS),

Flüchtlinge in den Städten nach 1945

Cover der Publikation

Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS), Bd. 1, 2001, 68 S.

Inhalt

Die thematischen Beiträge dieser Ausgabe - allen voran der Leitartikel von Karl Christian Führer - beleuchten Aspekte des Geschehens um Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen in Deutschland nach 1945.

Die Erinnerung an die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen unweigerlich mit Bildern von Flüchtlingstrecks und von zerstörten Städten verbunden. Der Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den verlorenen Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus Ost-Mitteleuropa verband sich seinerzeit mit der kriegsbedingten Zerstörung großer Teile des Wohnraums sowohl in den Westzonen als auch in der Sowjetischen Besatzungszone zu einem sozialen Problem von ungeheuren Ausmaßen. Bis 1950 kamen 7,876 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in die drei westlichen Besatzungszonen (insbesondere in die britische und die amerikanische Zone, weil die französische Militärregierung sich lange weitgehend erfolgreich gegen die Aufnahme mittelloser Zuwanderer in 'ihrem' Territorium wehrte). In der deutlich kleineren SBZ (beziehungsweise der DDR) mussten 4,065 Millionen "Neubürger" untergebracht und versorgt werden.

Die Unterbringung der Vertriebenen stellte zunächst die gewichtigste und in der Praxis am schwierigsten zu bewältigende Aufgabe dar. Sie wurde in den westlichen Besatzungszonen zunächst mittels einer rigiden Wohnungszwangswirtschaft bewältigt. Erst nach der Gründung der Bundesrepublik trat eine staatliche Wohnungsbauförderung als Lösungsansatz hinzu. Dabei blieb die Problematik nicht auf die Unterbringung der Flüchtlinge und Vertriebenen beschränkt. Eine weitere wichtige soziale Frage betraf den Zugang zu Arbeitsplätzen. Hier löste nach den ersten schwierigen Nachkriegsjahren schließlich das "Wirtschaftswunder" der 50er Jahre das Problem; ja, es lässt sich berechtigt argumentieren, dass der ökonomische Aufschwung ohne das Arbeitskräftereservoir der Vertriebenen wohl kaum die Dimensionen erreicht hätte, die er in den Boomjahren der frühen Bundesrepublik annahm.

Insgesamt war die Neuformierung der deutschen Gesellschaft nach dem Zustrom der Flüchtlinge und Vertriebenen aber ein weitaus konfliktträchtigerer und mit schmerzhafteren sozialen Kosten verbundener Prozess, als es die kollektive Erinnerung wahrhaben will, die deren Eingliederung meist vorbehaltlos und pauschal als großen Erfolg in der neueren deutschen Geschichte feiert. Die Historiographie hat dieses Bild in den letzten beiden Jahrzehnten in einer Fülle von Studien differenziert und korrigiert. Wie so oft klafft aber auch hier eine deutliche Lücke zwischen den Erträgen der Wissenschaft und dem populären Geschichtsbild. Zwar lässt sich nicht abstreiten, dass die soziale Eingliederung des Millionenheeres der Vertriebenen sich wider jede Erwartung rasch vollzog; darüber aber sollten die intensive Feindseligkeit, die viele Alteingesessene für die "Zugereisten" hegten, ebenso wenig vergessen werden wie die große soziale Not der Vertriebenen in den Jahren bis zum Einsetzen des Wirtschaftsbooms in den frühen 50er Jahren. Die Bedeutung des ökonomischen Aufschwungs für die erfolgreiche Flüchtlingseingliederung in der Bundesrepublik ist kaum zu überschätzen. Dieser historisch einmalige Boom aber resultierte in erster Linie aus der Gunst der weltwirtschaftlichen Lage und der ökonomischen Hilfe der ehemaligen Kriegsgegner (vor allem der USA). Insofern sollte die Tatsache, dass die Vertriebenen sich nicht - wie nach 1945 vielfach befürchtet - zu einem politisch-sozialen Problemfall innerhalb der deutschen Gesellschaft entwickelten, eher als ungemein glückliche Fügung dank günstiger Rahmenbedingungen denn als eigenständige Leistung der Deutschen erinnert werden.

Flüchtlingstreck aus dem früheren Schlesien, 1945-49, Deutsches Historisches Museum, Berlin Wenn die insgesamt erfolgreiche Lösung der Flüchtlingsproblematik in der frühen Bundesrepublik als ein vom gesellschaftlichen Kontext abhängiger Prozess beschrieben werden kann, so drängt sich die Frage auf, wie sich der parallele Eingliederungsprozess in der wirtschaftlich in vielfacher Hinsicht benachteiligten SBZ beziehungsweise dann in der DDR vollzogen hat. Hier liegt die historische Forschung noch deutlich zurück, weil das Thema bis zur "Wende" von 1989 in der DDR nicht er- gebnisoffen behandelt werden durfte, westliche Historiker aber keinen Zugang zu den entscheidenden Quellen besaßen. Die seit 1990 durchgeführten Untersuchungen, die sich stark auf die ersten Jahre nach 1945 konzentriert haben, zeigen eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West in den Reaktionen auf den Flüchtlingsstrom und in den Initiativen zur Bewältigung des Problems auf - aber auch Unterschiede, etwa in der Anerkennung der Vertriebenen als gesellschaftliche Sondergruppe. Vieles konnte bisher nicht hinreichend geklärt werden. Beispielsweise lässt sich die soziale Stellung der Vertriebenen in der DDR in den 50er und 60er Jahren auf der Basis der vorliegenden Literatur noch nicht mit der wünschenswerten Genauigkeit und Differenziertheit beschreiben. Schon die Tatsache, dass in DDR-Statistiken seit 1950 keine Zahlenangaben mehr zur Situation der Flüchtlinge zu finden sind, weil deren spezifische Probleme offiziell als vollständig gelöst galten, macht generalisierende Aussagen einstweilen unmöglich.

Neben den thematischen Beiträgen finden sich in dem neuen IMS-Heft wie immer eine Vielzahl von Informationen aus der modernen Stadtgeschichtsforschung (u. a. Tagungs- und Projektberichte, Tagungs- termine, Personalia sowie die regelmäßig zusammengestellte umfangreiche Auswahlbibliografie neu erschienener Literatur). Ein zusätzlicher wissenschaftlicher Akzent wird in den IMS künftig durch die Rubrik "Forschungsbericht" gesetzt. Im vorliegenden Heft stellt Ralf Roth hierzu das Themenfeld "Stadt und Eisenbahn" vor.

 

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