Die Innenstadt ist mehr als die Summe ihrer Nutzungen
Städte brauchen lebendige Zentren. In der Vielfalt ihrer Eigenschaften – Identifikationsort, kultureller Mittelpunkt, Schaufenster der Geschichte, Wirtschaftszentrum, Begegnungsort, Marktplatz – zeigt sich der hohe Anspruch an ihre Leistungsfähigkeit und Strahlkraft. Mit den hohen Erwartungen sind jedoch auch Zukunftssorgen verknüpft. So geht es heute – nach "Stadtflucht" und "Grüner Wiese" – vor allem um die Effekte der Digitalisierung. In technikverliebten Zukunftsbildern werden selbstorganisierte Häuser von Transportdrohnen beliefert, während die Menschen von autonomen Fahrzeugen kutschiert werden. Die Innenstadt spielt in solchen Szenarien keine Rolle. Ob der technische Fortschritt die Stadt sukzessiv überflüssig macht, ist allerdings keine gänzlich neue Frage. Und den Dystopien zum Trotz, entwickeln sich immer wieder neue, unerwartete Vernetzungen von Informationstechnologie und Raum. So ging im vergangenen Sommer plötzlich die Jugend auf die Straße – um Pokémons zu fangen.
"Man is man’s greatest joy" – die Menschen selbst sind die größte Attraktion in den Städten, so Jan Gehl in einem Vortrag auf dem Stadtforum Berlin 2006; und anderen Menschen zu begegnen oder sie auch nur zu beobachten, ist die am meisten verbreitete Tätigkeit in jeder Stadt. Die besten Beobachtungsaussichten resultieren noch immer aus dem Bedeutungsüberschuss der Innenstädte. Neben ihrer historischen, wirtschaftlichen, administrativen und kulturellen Bedeutung sind sie auch Alltagsorte der Wohnbevölkerung. Aus dem Miteinander von Besonderheit und Alltäglichkeit resultiert
die Spezifik des urbanen Lebens und die Unterschiedlichkeit der Innenstädte. Die Städte eint, dass die Innenstadt Schauplatz von Ansprüchen und Umbrüchen ist. Die Balance aus der Vielfalt der Funktionen und der Dominanz einzelner Bereiche muss immer wieder neu ausgehandelt werden.
Dieser Spagat wird besonders an dem häufig als Leitnutzung der Innenstädte bezeichneten Einzelhandel deutlich, denn die früher oft als stabil empfundene Beziehung zwischen städtischen Zentren und den Handelsbetrieben zeigt sich durchaus ambivalent. Der Handel stellt mit seinen Angeboten nach wie vor einen der wichtigsten Anlässe dar, städtische Zentren aufzusuchen. Noch vor wenigen Wochen waren zur Weihnachtszeit viele Innenstädte voller Menschen, die Tüten schleppten und hektisch drängelten. Das taten sie, obwohl es durch die Omnipräsenz der Angebote des Online-Handels keine zwingende Notwendigkeit mehr gibt, sich dem Getümmel auszusetzen. Da November und Dezember die umsatzstärksten Monate sind, gibt es eine Reihe von Untersuchungen zum Käuferverhalten, die eine Ambivalenz der Kunden zeigen. Nach der Befragung von Ernst & Young (2016) kaufen 71 Prozent der Befragten Weihnachtsgeschenke lieber im stationären Handel. Als Gründe dafür wurden neben der direkten Inaugenscheinnahme der Waren und der Beratung, auch Atmosphäre sowie Inspirationen beim Einkaufsbummel angegeben. Auch nach den Ergebnissen der FOM-Weihnachtsumfrage (2016) sind die Einkaufszentren und Fachgeschäfte die wichtigsten Einkaufsmöglichkeiten. Erst auf Platz 3 folgt die Bestellung über das Internet.
Die Beziehung des Handels zu den städtischen Zentren ist eng an deren Potenzial gebunden, Menschenmengen anzuziehen. Im Oktober teilte die Aktiengesellschaft des Kaufhauses Beck am Münchener Marienplatz mit, dass sich der Konzernumsatz im dritten Quartal im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozent verringert habe. Gründe dafür wären in den Attentaten von Paris, Brüssel und Nizza, dem Amoklauf in München und dem heißen Augustwetter zu sehen (Merkur 6.10.16). Auch die zunehmende Fokussierung des innerstädtischen Handels auf den Bereich Textil ist nicht unumstritten, da gerade in diesem Segment der Online-Handel hohe Zuwächse verzeichnet. Einzelhändler gehen zunehmend den Weg des Multichannel, bieten also selbst online und offline an. Perspektivisch stellt sich damit u.a. die Frage, wie viel bzw. wenig Verkaufsfläche eigentlich noch gebraucht wird und an welchen Standorten. Die Kraft des Handels, allein für die Belebung (und damit für die Vitalität) von Zentren zu sorgen, sollte realistisch eingeschätzt werden.
Das hat Auswirkungen auf die bisher unangefochtene Dominanz des Handels in Debatten um die "Lebendigkeit" von Innenstädten ("Stirbt der Handel, stirbt die Innenstadt"). Es muss hinterfragt werden, ob Innenstadtentwicklung und Handelsentwicklung wirklich synonym betrachtet werden sollten bzw. welche Erweiterungen perspektivisch notwendig sind. Schaut man sich an, welche Städte und Quartiere für den Handel erneut attraktiv geworden sind – denn diese gibt es ja durchaus – findet sich dort meist eine hohe Funktionsvielfalt. Die Lösung liegt dann eben nicht darin, Stadtzentren "handelsgerechter" zu machen, sondern sie in vielerlei Hinsicht – und so auch für den Handel – attraktiver zu gestalten. Daraus ergeben sich auch neue Anforderungen an die Akteure des Einzelhandels und der Immobilienwirtschaft. Beide müssen sich in stärkerem Maße in die Partnerschaft mit Stadt und Quartier einbringen: Mit der Forderung an Kommunen nach Attraktivitätssteigerung des städtischen Umfelds ist es nicht getan! Aber meist fällt bereits der Gedanke an gemeinwohlorientierte oder standortdienliche Kriterien bei der Vermietung – neben oder gar statt der maximal erzielbaren Miete – der Selbstzensur zum Opfer, weil man sich nicht mit utopischen Forderungen lächerlich machen möchte. Viele Standortkonzepte – von der Weihnachtsbeleuchtung über Ausgestaltung von Festen bis zu Händlergemeinschaften – bauen immer noch auf inhabergeführten Fachgeschäften auf. Doch die spielen angesichts des hohen Filialisierungsgrads in Innenstädten eine immer geringere Rolle und sind – trotz der Wertschätzung in Umfragen – die großen Verlierer des Strukturwandels. Damit führt kein Weg daran vorbei, dass sich auch Filialisten und Franchise-Unternehmen in Standortkooperationen einbringen.
Die Suche nach weiteren Standbeinen für eine Belebung der Innenstadt lenkt den Blick auf andere (komplementäre) Nutzungen und Funktionen städtischer Zentren sowie den öffentlichen Raum. Das Wohnen ist ein wichtiges Bindeglied zu anderen Nutzungen und die Innenstadt braucht Besitzende und Bewohnende, die das Zentrum mit Leben füllen. Mit der Rückkehr des Wohnens und des Alltagslebens in Innenstädte steigen nochmals die Anforderungen an die Benutzbarkeit und Aufenthaltsqualität der zentralen öffentlichen Räume. Die Ausgangsbedingungen sind so gut wie lange nicht, denn die Attraktivität des Wohnungsbaus führt auch zum Neubau von Wohnungen in innerstädtischen Lagen. Besonders interessant sind Projekte, in denen Verzahnungen von Handel und Wohnen sowie sozialen Nutzungen im Gebäude realisiert werden (z.B. Wohnungen in Obergeschossen von Shoppingcentern oder große Supermärkte als Sockelnutzungen von Wohngebäuden). Eine solche Reintegration bedarf oft starker städtischer Impulse, denn die Immobilienentwickler scheuen oft gemischt genutzte Immobilien.
Städte können sich keine schwache Innenstadt "leisten". Langfristige und nachhaltige Stärkung der Innenstädte muss mit einer vorwärtsgewandten Bedeutungs- und Inhaltsbestimmung der Zentren einhergehen. Dazu gehören konzeptioneller Weitblick, Kooperationen mit diversen Akteuren sowie die Bewahrung und auch Verteidigung der gesellschaftlichen und sozialen Funktionen des innerstädtischen Raums gegenüber wirtschaftlichen Interessen. Patentrezepte für den richtigen Weg gibt es nicht. Vielmehr bedarf es stadtspezifischer Strategien entsprechend jeweiliger örtlicher
Rahmenbedingungen. Gefragt sind Vertrauen in Beständigkeit, Notwendigkeit und Wandelbarkeit der Zentren. Auch wenn die Trends immer schneller wechseln, denke man nur an Flashmobs, Public Viewing oder Pokémons, es werden immer neue Anlässe gefunden werden, damit Menschen sich treffen und etwas erleben können.
aus: Difu-Magazin Berichte 1/2017