Difu-Gutachten zu Gigalinern
Pressemitteilung

Difu-Gutachten zu Gigalinern

Zulässigkeit eines bundesweiten Modellversuchs mit "Gigalinern" bzw. "Lang-Lkw"

Difu-Gutachten

"Die Zulässigkeit eines bundesweiten Modellversuchs mit "Gigalinern" bzw. "Lang-Lkw" auf der Grundlage einer Bundesrechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrats"

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Rechtsgutachten

Erstellt durch das Deutsche Institut für Urbanistik GmbH

Ass.jur. Ulrike Schillemeit (Bearb.), Deutscher Städtetag (Auftr.), Verband Deutscher Verkehrsunternehmen VDV (Auftr.), Allianz pro Schiene e.V. (Auftr.) 2010, 35 S.

Der von der Bundesregierung für Anfang 2011 geplante bundesweite Modellversuch mit Gigalinern auf der Grundlage einer Ausnahmeverordnung ist rechtswidrig und verfassungswidrig.

Das deutsche Recht zieht enge Grenzen für die Zulassung von Ausnahmen von der vorgeschriebenen maximalen Fahrzeuglänge von 18,75 Metern. Ausnahmen in Form einer Ausnahmegenehmigung für einen bestimmten Antragsteller dürfen nur erteilt werden, wenn der Transport aufgrund der Ladung nicht auf andere Weise möglich ist.

Grundsätzlich sieht das Gesetz (§ 6 Abs. 3, 2. HS Straßenverkehrsgesetz (StVG)) die Möglichkeit vor, dass Ausnahmeverordnungen durch das BMVBS ohne Zustimmung des Bundesrats erlassen werden können, die die einzelnen Genehmigungsverfahren auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung überflüssig machen.

In solchen Ausnahmeverordnungen wird für eine unbestimmte Zahl von Fällen genau geregelt, unter welchen Voraussetzungen von dem Wortlaut einer bestimmten Vorschrift abgewichen werden darf. Dass die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt werden, muss durch Gutachten und Bescheinigungen durch amtlich anerkannte Sachverständige gegenüber den zuständigen Behörden nachgewiesen werden, ein (gebührenpflichtiges) Ausnahme-Genehmigungsverfahren entfällt jedoch.

So kann zum Beispiel nach der 9. Ausnahmeverordnung zur Straßenverkehrsordnung ein Wohnwagenbesitzer die Einhaltung der fahrzeugtechnischen Auflagen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit nachweisen und erhält dafür die Berechtigung, auf Autobahnen statt 80 km/h, wie es § 18 StVO vorschreibt, 100 km/h zu fahren. An diesem Beispiel lassen sich die rechtlichen Grenzen erläutern, in denen Ausnahmen grundsätzlich zulässig sind: Der Zweck der Vorschrift, von der Ausnahmen zugelassen werden, muss trotz Abweichung von dem Wortlaut eingehalten werden. Der Zweck, die anderen Verkehrsteilnehmer gerade vor den Gefahren, die durch Wohnwagen typischerweise entstehen, zu schützen, darf durch die Ausnahmegewährung nicht beeinträchtigt werden. Nur, wenn der Wohnwagen durch besondere technische Sicherheitsvorkehrungen nachweislich die typische „Wohnwagengefahr“ nicht aufweist, wird der Zweck der Vorschrift auch bei Tempo 100 km/h eingehalten.

Bei der Vorschrift der Straßenverkehrszulassungsordnung, die die Höchstmaße von Fahrzeugen festlegt, geht es nicht um die Vermeidung von Gefahren, die typischerweise von Lastwagen ausgehen, sondern um die Vermeidung von Gefahren, die gerade von der großen Länge der Fahrzeuge ausgehen, also um Gefahren, die durch eine unveränderbare physikalische Eigenschaft entstehen können. Auch durch aufwendigste Sicherheitsvorkehrungen kann diese Gefahr durch die Überlänge nicht vermieden werden. Eine Abweichung vom Wortlaut ist immer gleichzeitig auch eine Abweichung vom Normzweck.

Diese grundsätzlich nicht zulässigen Ausnahmen, die über den Wortlaut hinaus auch den Zweck der Vorschrift nicht einhalten, sind nur rechtmäßig, wenn ein ganz besonderer Rechtfertigungsgrund vorliegt: Aufgrund der Unteilbarkeit der Ladung könnte der Transport sonst überhaupt nicht stattfinden. Hier ist es aus Verhältnismäßigkeitsgründen zur Vermeidung einer übermäßigen Härte für den betroffenen Unternehmer geboten, die von der Überlänge ausgehenden Gefahren ausnahmsweise hinzunehmen. Eine vergleichbare Situation liegt aber bei den Gigaliner nicht vor. Der unter Umständen kostengünstigere Transport von Zwieback, Blumen, Kleidern oder Matratzen in einem Gigaliner stellt keinen hochrangigen Ausnahmegrund dar, der die Hinnahme der von der Überlänge ausgehenden Gefahren rechtfertigen könnte.

Auch die EG-Richtlinie 96/53/EG, durch die die Höchstgewichte und Höchstlängen für Kraftfahrzeuge in der Europäischen Gemeinschaft geregelt werden, und die den Mitgliedstaaten „erlaubt“, zeitlich und örtlich begrenzter Verkehrsversuche mit Gigalinern zuzulassen, und auf die sich die Bundesregierung beruft, bewirkt keine Lockerung des deutschen Rechts.

Denn diese „Erlaubnis“ bedeutet nur, dass solche Verkehrsversuche nicht gegen das europäische Recht verstoßen würden. Sie hat keinerlei regelnde Wirkung, die zum Vorrang des europäischen Rechts vor dem deutschen Recht führen könnte.

Mit anderen Worten: Durch das deutsche Recht wurde diese gemeinschaftsrechtliche Option bislang nicht wahrgenommen. Der Modellversuch würde zwar nicht gegen europäisches, aber gegen deutsches Recht verstoßen.

Die Ausnahmeverordnung wäre also rechtswidrig, weil sie die Grenzen ihrer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im Straßenverkehrsgesetz sprengen würde, die - wie gesagt – nur zum Erlass von Ausnahmeverordnungen ermächtigt, die sich innerhalb des Zwecks der Vorschrift halten, von deren Wortlaut sie abweichen (außer zur Vermeidung unverhältnismäßiger Härten).

Diese Rechtswidrigkeit bedeutet gleichzeitig die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit der geplanten Ausnahmeverordnung. Jede Rechtsverordnung, die sich nicht im Rahmen ihrer parlamentarisch beschlossenen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage hält, verstößt gegen den Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung und gegen das Demokratieprinzip. Art. 80 Abs.1.S.1 Grundgesetz verlangt, dass die Exekutive eben nur die Rechtsverordnungen erlassen darf, die dem von der Legislative vorgegebenen inhaltlichen „Programm“ und der von der Legislative vorgegebenen Zielsetzung entsprechen. 

Da auch keine andere gesetzliche Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommt, auf der das BMVBS eine Rechtsverordnung zur Regelung des Modellversuchs Gigaliner erlassen könnte, ist der einzige Weg, der zu der rechtmäßigen Durchführung eines solchen Modellversuchs führt, der parlamentarische: Der Bundestag könnte mit Zustimmung des Bundesrats eine neue Vorschrift in das Straßenverkehrsgesetz schreiben, die das Ministerium zum Erlass einer das Nähere regelnden Rechtsverordnung ermächtigt. Eine parlamentarische Befassung mit dem Thema wäre auch im Interesse der Gemeinden und der Kreise, damit ihre Belange in umfassender Weise berücksichtigt werden können.