Stadt und Öffentlichkeit
Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS), Bd. 2, 2000, 112 S., Deutsches Institut für Urbanistik 2000
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Inhalt
Wer auf die historische Entwicklung blickt, kann sich der Einsicht in den engen Zusammenhang von Stadt und Öffentlichkeit nicht entziehen. Adelheid von Saldern, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Hannover, sieht das hierfür konstituierende Faktum in der im Zuge der Aufklärung entstandenen bürgerlichen Gesellschaft, deren Emanzipationsgeschichte eng mit dem Aufstieg der Städte verknüpft war. Sie verweist dabei auf das von Jürgen Habermas entworfene Konzept einer bürgerlichen Öffentlichkeit, in dem allerdings der Raum lediglich implizit mitgedacht ist - etwa wenn er von Kaffeehäusern, Klubs und Salons spricht, in denen Debatten über öffentliche Angelegenheiten geführt wurden und sich Öffentlichkeit konstituierte. Adelheid von Saldern lässt dagegen in ihrem Leitartikel in einer Art Bestandsaufnahme einen thematisch aufgefächerten Öffentlichkeitsbegriff Revue passieren, bei dem der - öffentlich zugängliche - Raum der Stadt im Mittelpunkt steht. Sie tut dies unter dem Blickwinkel neuer forschungsrelevanter Zugänge und Fragestellungen sowie kurz und kursorisch unter den Überschriften:
- Öffentlicher Stadtraum: Herrschaft und Sozialbewegungen,
- Stadtpolitik und städtische Öffentlichkeit,
- Öffentlicher Raum im Kontext von Ordnungssystemen und Sozialkontrollen,
- Öffentlicher Raum als bebauter Raum,
- Öffentlichkeiten: kulturelle Repräsentanz und Dominanz (a: geschlechterspezifische Zuschreibungen und Nutzungsweisen, b: Klassen, Schichten und Ethnien),
- Öffentlichkeitskultur (a: kommunikativ-partizipatorisch, b: institutionalisiert städtisch),
- Stadtöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit,
- Bilder und Diskurse über Öffentlichkeit und Stadt.
Von Salderns Betrachtungsweise basiert auf drei Einsichten: erstens darauf, dass soziale Beziehungen, insbesondere Machtkonstellationen und Gesellschaftshierarchien, sich verräumlichen, zweitens, dass die auf diese Weise vergesellschafteten Räume ihrerseits symbolische Kraft auf Wahrnehmungen, Deutungsschemata und Einstellungen der Menschen ausüben, folglich gesellschaftliche Verhältnisse reproduzieren, und drittens, dass die Menschen sich Räume - so auch öffentliche, das heißt allgemein zugängliche Orte - auf recht verschiedene Weise aneignen. Gesellschaftliche Produktion von Raum und gesellschaftliche Aneignung von Raum stehen in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander.
Im Ergebnis deckt sich von Salderns Befund nicht mit der Habermas'schen Vorstellung eines herrschaftsfreien kommunikativen Handelns grundsätzlich aller Menschen. Dieser wertete den Strukturwandel von (städtischer) Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert mehr oder weniger als eine Verlustgeschichte. Empirisch arbeitende Historiker und Historikerinnen "entdeckten" dagegen diverse Öffentlichkeiten, rekonstruierten ihr Zustandekommen, ihre Beziehungen zu anderen Öffentlichkeiten, ihre Ausdrucks- und Praxisformen sowie ihre Selbst- und Fremddeutungen. Öffentlichkeit wird inzwischen als ein umkämpfter Raum gesehen, wobei die Machtchancen der in der Arena agierenden Partizipanten höchst ungleich verteilt sind - alles Forschungsansätze, die nicht der Habermas'schen Konzeption entsprechen. Denn Habermas versteht unter Öffentlichkeit eine letztlich unteilbare, eine das ganze Gemeinwesen vertretende Einheit. Die Öffentlichkeitssphäre ließe sich, so seine Vorstellung, unter günstigen Umständen in ein rational argumentierendes und handelndes Subjekt transformieren. Diese idealtypisch angelegte politische Fiktion ist nicht in konkrete historisch-empirische Analysen umzusetzen, kann sich aber, wie die Renaissance des Habermas-Buches in den USA der achtziger und frühen neunziger Jahre zeigt, äußerst befruchtend auf die Geschichtsschreibung auswirken.
Davon kann, so von Saldern, auch die Stadtgeschichtsschreibung hierzulande profitieren. Diese sollte im Spannungsfeld von Nähe und Distanz zum Habermas'schen Idealtypus ihre Fragen stellen und zu beantworten suchen. Die Nähe liegt im (utopischen) Leitbild eines herrschaftsfreien Raumes, in dem sich eine vernunfts- und gemeinwohlorientierte Öffentlichkeit im Rahmen einer Zivilgesellschaft konstituieren und immer wieder erneuern kann, wozu es eines nicht entfremdeten Raumes bedürfte. Die Distanz zu Habermas stellt sich her, wenn der Blick auf die Stadt als einem empirisch zu untersuchenden Sozialraum und auf die Nutzungsweisen des Raumes fällt. Dann wird, wie in den vorherigen Ausführungen angedeutet, eine Reihe von Phänomenen untersucht, die mit anderen theoretischen Überlegungen erschlossen werden müssen. So hat beispielsweise die feministische Theorie und Empirie wesentlich zur Erkennntis beigetragen, dass die gesellschaftlichen Ressourcen Stadtraum und Öffentlichkeit für die beiden Geschlechter recht Unterschiedliches bedeutet haben.
Wer unter sozialraumanalytischen Aspekten die neuere Sozialgeschichtsschreibung, aber auch die neueren kulturgeschichtlichen Studien in den Blick nimmt, merkt, wie häufig dem jeweils untersuchten Sachverhalt die sozialräumliche Dimension fehlt. Mit anderen Worten: Die Geschichten haben oftmals keinen Ort. Aufgabe der Stadthistoriker und Stadthistorikerinnen sollte daher unter anderem sein, diese Lücken zu schließen und auf solche Weise dazu beizutragen, dass in ihren Analysen dem Raum mehr Raum gegeben wird, eingedenk der Tatsache, dass sich Geschichte nicht zuletzt im (städtischen) Raum materialisiert (Chombart de Lauwe) und dass durch deren Aneignung nicht nur der Verstand und die Sinne, sondern auch das Gedächtnis der Menschen nachhaltig geprägt wurde und wird.
Dem Konzept der einzelnen IMS-Hefte entsprechend sind dem Themenschwerpunkt weitere Beiträge gewidmet, darunter eine ausführliche und höchst kritische Auseinandersetzung mit einem bereits 1994 in deutscher Übersetzung erschienenen Titel des französischen Ethnologen Marc Augé, "Orte und Nicht-Orte". Daneben enthält das Heft aktuelle Berichte und Informationen zur modernen Stadtgeschichte, insbesondere die regelmäßig fortgeführte Auswahlbibliographie neuer stadtgeschichtlicher Literatur.