Zur Zukunft der Städte: "Die Lage ist ernst"
Zur Zukunft der Städte: „Die Lage ist ernst“
Der frühere Finanzminister und heutige Finanzforscher Carsten Kühl über die Nöte und das Notwendige in Frankfurt und überall
In den Städten entscheidet sich, ob Deutschland den Umbau zu einer ökologisch und ökonomisch lebensfähigen Gesellschaft packt. Doch zu wenig geht voran – selbst im reichen Frankfurt. Woran liegt’s? Was muss geschehen? Darüber sprach Redakteur Mark Obert mit dem Leiter des Instituts für Urbanistik, Dr. Carsten Kühl.
Herr Kühl, marode Straßen, marode Brücken, marode Schulen und Sporthallen – selbst im reichen Frankfurt. Was läuft schief?
Die Situation in Frankfurt ist repräsentativ für die Republik, obwohl Frankfurt, da haben Sie recht, eher zu den reichen Städten gehört. Daran erkennt man, dass es nicht nur ein Geldproblem ist. In den ärmeren Kommunen mag das verstärkt der Fall sein. In Frankfurt spielen andere Faktoren eine Rolle.
Die Stadt hat jahrelang nichtrichtig hingeschaut, sich nicht gekümmert. So lauten die Klagen zum Beispiel von Schulleitungen, von vielen Eltern.
Wir vom Deutschen Institut für Urbanistik geben keine Werturteile über einzelne Städte ab. Und als jemand, der selbst mal politische Verantwortung hatte, sage ich: Keiner trifft unter Unsicherheit rückblickend immer die richtigen Entscheidungen.
Aber haben die Kritiker nicht einen Punkt?
Die Kritik ist vielleicht nachvollziehbar, trifft aber nicht den Kern. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die von den Verantwortlichen so nicht vorhersehbar waren.
Was denn?
Als ich Finanzminister in Rheinland-Pfalz wurde, 2009 war das, hieß es: Wir werden älter, wir werden bunter, wir werden weniger. Weniger sind wir nicht geworden. Wir sind vier Millionen Menschen in Deutschland mehr als 2011, was damals keine Bevölkerungsprognose vorausgesehen hat. Das hat eben zur Folge, dass es auch in Städten wie Frankfurt zu wenige Wohnungen gibt, die öffentliche Infrastruktur stärker beansprucht wird, wir mehr für Schulgebäude aufwenden müssen.
Bevor wir auf die von Ihnen erwähnten Faktoren für Frankfurt eingehen: Lässt sich der Sanierungsstau deutscher Städte beziffern?
Ja. Wir ermitteln jedes Jahr für die KfW das sogenannte Kommunal-Panel und da auch den kommunalen Investitionsrückstand. Zuletzt lag der bei insgesamt 166 Milliarden Euro.
Tendenz?
Stetig steigend, auch aktuell. Bei der ersten Ermittlung 2009 lagen wir bei rund 80 Milliarden Euro. Und in Kürze werden wir die neueste Zahl veröffentlichen, die kann ich hier noch nicht nennen. Aber sie liegt vermutlich höher als 166 Milliarden Euro.
Warum ist das so?
Das hat zwei Gründe: einmal die Preiseffekte. Da hauen die hohe Inflation und die hohen Energiepreise seit zwei Jahren besonders rein. Der wesentliche Grund ist aber die Tatsache, dass mit diesem Investitionsrückstau der Berg an Belastungen wächst.
Was ich heute nicht in Ordnung bringe, kostet mich morgen noch mehr.
Genau. Hinzu kommt der stärker werdende Investitionsdruck, den wir allein schon wegen der Energietransformation haben: Der Ausbau des Nahverkehrs muss vorangetrieben werden, die kostenintensive Klimaanpassung wirkt sich auf alle Bereiche aus, der Ausbau der Digitalisierung wird teuer.
Klingt dramatisch.
Ich würde sagen, die Lage ist sehr ernst – vor allem, wenn man bedenkt, dass die Kommunen eine überragende Bedeutung bei allen Herausforderungen der Transformation haben, also bei der Dekarbonisierung, der Digitalisierung und der Demografie.
Aber wie erklärt sich denn nun die Misere in Frankfurt mit seinen hohen Gewerbesteuereinnahmen?
Also ich wüsste nichts, was man Frankfurt in besonderem Maße anlasten könnte. Dass Geld da ist, zeigt ja: Es gibt einfach Investitionshemmnisse.
Als da wären?
Da kommen wir zum Arbeitskräftemangel in den öffentlichen Verwaltungen, in den Planungs- und Genehmigungsbehörden. Zum Fachkräftemangel im Handwerk. Dazu langwierige Genehmigungsverfahren, hohe Standards, also allgemein Regulierungen. Und eine ganz wesentliche Rolle spielen die geringeren Kapazitäten im Bauhauptgewerbe seit Anfang der 2000er Jahre. Selbst wenn Sie mit Geld an den Markt gehen, finden Sie nicht so schnell einen Anlagebauer.
In Frankfurt und anderswo fällt auf, dass die Städte gar keine Bestandsaufnahmen zum Zustand ihrer Schulen, Straßen, Brücken haben. Wären solche Bestandsaufnahmen nicht sinnvoll, um besser planen zu können?
Sinnvoll wäre das. Die Kommunen arbeiten da ganz unterschiedlich. Einige haben eigene Immobiliengesellschaften, die den Überblick über den Baubestand ermöglichen. Andere wie Frankfurt arbeiten dezentral, da sind die stadteigenen Gebäude den jeweiligen Dezernaten untergeordnet, die Schulbauten dem Bildungsdezernat zum Beispiel. Das macht es sicherlich manchmal anspruchsvoller, einen einheitlichen Standard herbeizuführen.
Und sorgt für böse Überraschungen. Zuletzt mussten plötzlich Räume in einer Schule gesperrt werden – Einsturzgefahr. Solche Eskalationen ereilen die Stadt immer öfter.
Deshalb spricht natürlich vieles dafür, dass man sich den zu erwartenden Finanzbedarf transparent macht. Dazu muss man auch die Dezernate in die Pflicht nehmen. Der Frankfurter Kämmerer Bastian Bergerhoff hat ja neulich im Interview mit Ihrer Zeitung betont, dass er eine wirkungsorientierte Haushaltsaufstellung anstrebt. Das ist verdammt schwierig, aber der richtige Weg.
Was ist daran so schwierig?
Es weckt in allen Dezernaten eine Erwartungshaltung, alle sehen bei sich einen besonders hohen Nutzen. Deshalb kann eine wirkungsorientierte Haushaltsaufstellung nur funktionieren, wenn ich alle Bereiche systematisch erfasse. Für den Gebäudebestand der Stadt wäre da eine Inventurliste in der Tat nötig. Ob man die zentral oder dezentral angeht, ist aus meiner Sicht unerheblich, Hauptsache, man geht es an.
Wie müsste Berlin mehr helfen?
Da würde ich differenzieren. Die ärmeren Kommunen brauchen eine Chance zum Resett, sonst werden sie die kommunale Finanzaufsicht niemals los. Und wenn man davon ausgeht, dass deren Lage meist nicht selbstverschuldet, sondern auf Strukturwandel in den Regionen zurückzuführen ist, wäre ein Cut gerechtfertigt – wichtig wäre er ohnehin. Für Frankfurt gilt das aber nicht.
Die Länder entschulden doch ihre Städte. Hessen jedenfalls.
Die Länder machen das auf unterschiedliche Art und Weise. Hessen ist das unter Finanzminister Thomas Schäfer angegangen. Es gibt seit Jahren aber auch die Erwartung, dass der Bund sich ebenfalls beteiligt. 2020 war man auch mal ganz nah dran. Olaf Scholz hat damals noch als Bundesfinanzminister einen Entwurf vorgelegt. Der ist aber gescheitert, weil Corona kam und Gewerbesteuereinnahmen einbrachen. Da hieß es dann zu den Kommunen: Ihr müsst entscheiden, ob ihr Altschulden abbauen oder eine Gewerbesteuerkompensation wollt. Beides gibt’s nicht.
Wie haben Sie als Finanzminister in Rheinland-Pfalz denn Ihren Sorgenkindern Pirmasens, Kaiserslautern und Trier geholfen?
Wir haben damals einen sehr schwach ausgestatteten Pakt mit unseren Kommunen geschlossen, der in meiner Nachfolge deutlich verbessert worden ist. Unser Problem 2009 war, dass das Land sofort in die damals neue Schuldenbremse geraten ist, es musste bis 2020 Schulden abbauen. Rheinland-Pfalz stand damals nicht gut da, wir konnten uns nicht gerade viel leisten. Es sieht zwar heute besser aus, aber wenn sich der Bund zur Hälfte an der Entschuldung beteiligen würde, ginge das rascher.
Sie sind also kein Fan der Schuldenbremse wie Ihr Parteigenosse Olaf Scholz?
Die Schuldenbremse muss reformiert werden, um im Bund auf breiter Front dringende Investitionen zu ermöglichen. Aber jetzt kommt ein Aber für die Kommunen. Die haben eigentlich eine gute Schuldenregel. Die dürfen nämlich Investitionskredite aufnehmen – im Gegensatz zu Bund und Ländern. Allerdings dürfen das nur die Städte, die nicht unter der Kuratel der Kommunalaufsicht stehen, die also nicht hochverschuldet sind. Dass sich Bund und Länder wiederum mit der Schuldenbremse viel strengere Regeln auferlegen, als sie die EU vorsieht, halte ich für falsch. Das bringt uns nur Wettbewerbsnachteile – und verengt den Spielraum, um die Kommunen zu entlasten.
Es geht ja nicht nur ums Entlasten. Es geht doch, wie Sie bereits erwähnten, um den nötigen Umbau zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Da sind die Kommunen das Maß aller Dinge.
Deshalb sind zwei Dinge meines Erachtens nach absolut prioritär. Man darf die Transformation finanziell nicht an einer Schuldenbremse scheitern lassen. Sie wurde unter völlig anderen fiskalischen Voraussetzungen und vor dem Hintergrund völlig anderer gesellschaftlicher Herausforderungen etabliert.
Was wäre klug?
Die Schaffung eines Sondervermögens Transformation – ähnlich dem Bundeswehr-Sondervermögen – wäre eine pragmatische Lösung, die alle, die sich bei dieser Frage dogmatisch eingemauert haben, nicht zu politischen Verlierern stempeln würde. Daraus sollten dann gerade auch kommunale Investitionen, etwa im Bereich des Klimaschutzes und der Klimaanpassung, mitfinanziert werden. Auch die Bewältigung des Arbeitskräftebedarfs wird sich nur bewältigen lassen, wenn es uns gelingt, alle Stellschrauben frei von ideologischen Barrieren neu zu justieren.
Warum greift eigentlich nicht das Konnexitätsprinzip, wonach der Bund für jene Maßnahmen finanziell aufkommt, die er den Kommunen aufbürdet: in der Sozialpolitik, der Flüchtlingspolitik?
Das ist die ewige Diskussion zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Da kompensiert der Bund in der Tat nicht hinreichend.
Aber warum ist das so?
Da gibt es das grundsätzliche Problem, dass der Bund gar keine direkten Finanzbeziehungen zu den Kommunen haben darf. Kommunen sind Teil der Länder. Die Länder wiederum sagen: Na ja, wenn der Bund etwas festsetzt, sind wir ja wohl nicht diejenigen, die das ausgleichen müssen. Es ist ein ewiges hin und her.
Klingt nicht klug.
Es ist nicht klug, aber es findet statt.
Warum?
Weil sich gar nicht klar sagen ließe, wer dann genau für wie viele Kosten aufzukommen hätte. Denken Sie allein an Verwaltungskosten, wer will die genau berechnen. Und wo es Verhandlungsspielräume gibt, werden die von allen Seiten genutzt. Es ist aber auch einiges korrigiert worden in jüngerer Vergangenheit. Der Bund hat für Menschen, die sich im Alter ihre Unterkunft nicht mehr leisten können und für andere soziale Leistungen einen höheren Anteil übernommen.
Die wachsende Altersarmut ist noch so ein Problem, das die Kommunen einholt – auch Frankfurt.
Das spüren wir jetzt schon. Und da entsteht ein Teufelskreis: In armen Städten gibt es besonders viele Sozialbedürftige. Der Zusammenhang ist statistisch erwiesen.
Wenn es unklug ist, dass der Bund nicht in direkten Finanzbeziehungen mit den Kommunen stehen darf, warum ändert man das nicht?
Das ist Teil des Grundgesetzes. Demnach gehören die Kommunen zu den Ländern. Es gibt einige Aufweichungen am Rande der Verfassungsmäßigkeit, weil man gemerkt hat, dass man anders nicht hinkommt. Seit einigen Jahren zum Beispiel sind die Städte am Umsatzsteueraufkommen beteiligt. Das ist eine der Variablen, mit denen man Finanzströme zwischen Bund, Ländern und Kommunen steuern kann. Aktuell fordern kommunale Spitzenverbände zum wiederholten Male, dass man an diesen Parametern etwas zugunsten der Städte verändert.
Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef gibt sich stets optimistisch. Nun hat sich Ihr Institut wie jedes Jahr für sein OB-Barometer umgehört bei den Oberbürgermeistern. Wie ist denn bei denen so die Stimmung?
Erstmals, seitdem wir diese Erhebung machen, nennen die Oberbürgermeister die Finanzprobleme als wichtigstes Thema. Das ist deshalb so, weil 2023 erstmals seit über zehn Jahren alle Kommunen zusammen einen Negativsaldo aufgewiesen haben. Ein weiterer Grund ist, dass die Kommunen durch die Aufnahme und Integration von Geflüchteten aktuell finanziell stark belastet werden, aber zu wenig Kompensation vom Bund erhalten. Das war 2015 und 2016 auch so. Das Thema Klima, das sonst immer ganz oben stand, genießt zwar für die Zukunft noch die größte Bedeutung, ist aber gegenwärtig etwas in den Hintergrund geraten. Das Ergebnis hat uns überrascht.
„Ich wüsste nichts, was man Frankfurt in besonderem Maße anlasten könnte. Es gibt einfach Investitionshemmnisse.“
"Dass sich Bund und Länder mit der Schuldenbremse viel strengere Regeln auferlegen, als sie die EU vorsieht, halte ich für falsch. Das verengt den Spielraum, um die Kommunen zu entlasten."
Zur Person
Der Mann kennt sich mit Geld und Städten aus – einer in diesen Zeiten nicht eben segensreichen Kombination. Dr. Carsten Kühl, 1962 im hessischen Lauterbach geboren, ist promovierter Volkswirt und Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Seit 2018 leitet er das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) in Berlin. Politisch aktiv war der Sozialdemokrat unter anderem als Staatssekretär im Wirtschafts- und Verkehrsministerium sowie von 2009 bis 2014 als Minister für Finanzen und Bauen in Rheinland-Pfalz. Wie sein Vorgänger wurde er zum Opfer der Affäre um die Finanzierung des Nürburgrings. Seine Forschungsschwerpunkte sind öffentliche Finanzen und Wohnungspolitik. Zur Haushaltsschieflage in Kommunen hat sich Kühl bereits in seiner Dissertation als Experte beworben. Deren Titel: „Strategien zur Finanzierung der Altlastensanierung“. Der Fußballfan, Aufsichtsrat beim FSV Mainz 05, ist ledig und hat ein Kind.
Das Interview führte Redakteur Mark Obert von der Frankfurter Neuen Presse (veröffentlicht am 27.5.2024 auf Seite 9). Wir bedanken uns herzlich für die freundliche Veröffentlichungserlaubnis durch die Frankfurter Neue Presse!