Ein Kind läuft alleine einen Weg entlang
Standpunkt

Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe – Impulse zum Umdenken

Die Kinder- und Jugendhilfe muss handlungsfähig bleiben, Kinderschutz als vorrangige Aufgabe gewährleisten und Zukunftsaufgaben qualitativ und quantitativ gut integrieren. Dafür ist ausreichend Fachpersonal dringend notwendig.

In den Kommunen zeigt sich seit einigen Jahren, dass neue Fachkräfte vielerorts nur noch schwer zu finden sind, dazwischen wachsendem Bedarf und Arbeitskräfteangebot eine immer größer werdende Lücke klafft. Öffentliche und freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe sowie Fachverbände formulieren die Sorge, aktuelle (Basis-)Aufgaben nicht (mehr) adäquat erfüllen zu können, so z. B. im Kinderschutz oder bei der Aufrechterhaltung anderer stationärer Angebote und Einrichtungen. Hinzu kommt, dass mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Jahr 2021 neu hinzugekommene Aufgaben in verschiedenen Handlungsfeldern sofort umzusetzen sind. Zunehmend Sorgen bereiten der Praxis weitere Herausforderungen: die Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen im SGB VIII, die steigende Zuwanderung von unbegleiteten minderjährigen Ausländer*innen (UMA) sowie die geplante Einführung eines Anspruchs auf Ganztagsbetreuung. Mit den derzeit vorhandenen Fachkräften können diese Aufgaben kaum noch bewältigt werden – weder quantitativ noch qualitativ.

Zwar hat sich die Zahl der Fachkräfte im sozialen Bereich seit 2006 verdoppelt, dennoch deckt das Angebot nicht den Bedarf. Zu den Ursachen gehört steigender Personalbedarf, beispielsweise durch Anforderungen schulischer Ganztagsbetreuung und Qualitätsverbesserungen in der Kinderbetreuung. Erschwerend kommen teils wenig belastbare Prognosen hinzu: Zwar liegt für die Beschäftigtensituation im Bereich der Kita-Betreuung gutes Zahlenmaterial vor, im Bereich der stationären Hilfen, im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Jugendämter sowie mit Blick auf den Fachkräftenachwuchs in Ausbildung sieht dies aber anders aus. Hier gibt es keine bundesweit belastbaren Daten, die Prognosen und damit eine fundierte Personalbemessung ermöglichen. Der sich beschleunigende Generationenwechsel verschärft die Probleme zusätzlich.

Wie kann die Fachkräftegewinnung gelingen? 

Verbesserungen sind also auf mehreren Ebenen von Nöten. Es sind wirksame Strategien und Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung in der Kinder- und Jugendhilfe erforderlich – hierüber besteht auf den Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen Konsens. Es geht darum, fachliche Anforderungen weiterhin zuverlässig und qualitätsgerecht zu bewältigen und erzieherische/sozialpädagogische Berufe insgesamt attraktiver zu machen. Dazu müssen auf Bundes- und Länderebene vor allem gesetzliche Rahmenbedingungen geändert werden. Und in den Kommunen geht es vor allem darum, flexibel auf die Situation zu reagieren. Hierzu gibt es bereits gute Praxiserfahrungen, kreative und pragmatische Vorschläge, innovative Herangehensweisen und fachpolitische Forderungen.



Das Difu unterstützt diesen fachlichen Diskurs. Die Kommunen und das Difu haben insbesondere den Bund und die Länder immer wieder auf limitierende Rahmenbedingungen und die Haupt- ursachen für alle Probleme rund um das Thema Fachkräftemangel hingewiesen: das Fachkräftegebot, unterschiedliche Fachkräftelisten der Länder, das Tarifrecht, Ausbildungscurricula sowie eine zu geringe Zahl an Studienplätzen. Da die Fachkräftenachfrage seit vielen Jahren die Kapazitäten von Ausbildungseinrichtungen übersteigt, sollten diese insgesamt, vor allem aber bei dualen Studienplätzen, erhöht werden. Verfahren zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse müssen beschleunigt und entbürokratisiert werden.



Initiativen und Programme auf Bundesebene zur Fachkräftegewinnung sind ein Schritt in die richtige Richtung – allerdings wurden diese Aktivitäten nicht verstetigt. Große Resonanz erfuhr das Bundesprogramm Fachkräfteoffensive (2019- 2022) des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), in dessen Mittelpunkt unter anderem die praxisintegrierte vergütete Ausbildung zum/zur Erzieher*in stand. Derartige Förderprogramme sollten weitergeführt und mit Blick auf die geforderte Qualifikation der Mitarbeitenden flexibilisiert werden. Erfolgreiche Module dieses Programms, wie z. B. die praxisintegrierte Ausbildung zur Erzieher*in länderspezifisch neu aufzulegen, wäre eine wichtige Option zur Fachkräftegewinnung. Auch sollte die Ausbildung von Erzieher*innen im Sinne der gemeinsamen Stellungnahme von ver.di und den kommunalen Spitzenverbänden aus dem Jahr 2021 neu geordnet werden. Kernpunkte sind eine Ausbildungsvergütung und eine umfassendere Praxisanleitung während der Ausbildung.

Leistungsgerechte Bezahlung als Grundlage

Als größte Hürde für einen flexibleren Umgang mit der Herausforderung Fachkräftemangel nehmen die Kommunen das Tarifrecht wahr, trotz der Möglichkeiten einer „weiten“ Interpretation der Grundlagen für Eingruppierungen. Mit Blick auf die zunehmende Vielfalt unterschiedlicher Fachkräfte in einer inklusiv ausgerichteten Kinder- und Jugendhilfe ist zu überlegen, nicht die Ausbildung, sondern die Tätigkeit zur Grundlage der Bezahlung zu machen. In der Praxis gibt es freie Träger, die dies bereits erfolgreich umsetzen. Nur so können auch geeignete „Quereinsteiger*innen“ zur Überwindung des Fachkräftemangels ins Spiel kommen. Auch mehr und finanzierte Nachqualifizierungskonzepte für soziale Arbeit und berufsbegleitende  Weiterbildungsangebote  könnten helfen.

Es gilt, insgesamt Anpassungen vorzunehmen, auf deren Grundlage die benötigten (Fach-)Kräfte leistungsgerecht entlohnt werden können. Dies ist eine Forderung an den Gesetzgeber und die Tarifpartner – auch als wichtiger Schritt in Richtung gesellschaftlicher Anerkennung der Relevanz sozialer Arbeit und deren Wertschätzung. Diskussionen über die Bezahlung von Mitarbeitenden in sozialen Berufen haben in den letzten drei Jahren vor allem im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie deutlich zugenommen – Überlegungen, dieses Berufsfeld u. a. über Vertragsgestaltungen attraktiver machen zu müssen, gelten auch für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.

Das Fachkräftegebot

Das Fachkräftegebot ist eine weitere übergeordnete Rahmenbedingung, mit der Kommunen umgehen müssen, wenn sie ihren Personalbedarf decken wollen. In der juristischen Auslegung gilt es nur für die öffentliche Jugendhilfe. Bei freien Trägern gibt es dagegen weder im Hinblick auf das Betriebserlaubnisrecht noch das Vertragsrecht ein zwingendes Fachkräftegebot. Wer „Fachkraft“ ist, wurde im Gesetz nicht definiert; es gibt hierfür also keine bundesgesetzlichen Vorgaben. Damit eröffnen sich Handlungsspielräume für Kommunen, das Feld in Frage kommender Mitarbeiter*innen über „übliche“ Professionen wie Sozialarbeit oder Sozialpädagogik hinaus auszudehnen. Eine hohe Fachlichkeit ist wichtig. Es sollte bei der aktuellen Notlage aber vorrangig darum gehen, zu definieren, welche Kompetenzen in welchen Einrichtungen gebraucht werden, ohne Standards abzusenken und gleichzeitig ohne auf „Fachlichkeit“ aus Prinzip zu beharren. Es geht um stärker inhaltlich statt formal definierte Aufgabenprofile und das Arbeiten in multiprofessionellen Teams. Genutzt werden kann auch § 72 SGB VIII, der persönliche Eignung, fachliche Qualifizierung, Fortbildung und Praxiserfahrung als Voraussetzungen für soziale Arbeit nennt: Die „persönliche Eignung“ (unabhängig vom Abschluss) sollte als Kriterium für eine Stellenbesetzung viel stärker berücksichtigt  werden.

Unabhängig davon, wie die Bundes- und Länderebene mit den Forderungen umgehen, beschreiten viele Kommunen innerhalb der vorhandenen Rahmenbedingungen bereits Wege, um schnell und flexibel mit dem drängenden Problem umzugehen. Dazu gehört die eigene Ausbildung von Fachkräften, die erfahrungsgemäß eine hohe Bindungswirkung entfaltet. Auch unbefristete Stellenausschreibungen, kommunale Fort- und Weiterbildungsangebote für soziale Berufe sowie flexible Arbeitszeitmodelle gehören zum Angebotsportfolio von Kommunen als Arbeitgeberinnen. Diese Anstrengungen sollten ausgeweitet und im Sinne von Erfahrungstransfers ausgebreitet werden, wozu auch das Difu einen Beitrag leistet.

Gleichwohl bleibt die Forderung nach veränderten Rahmenbedingungen in höchstem Maße bestehen, damit die kommunale Situation nicht als dauerhaftes „Not-Provisorium“ zwangsverstetigt wird. Dies hätten unsere Kinder und Jugendlichen wahrlich nicht verdient!

 

Vorabveröffentlichung des im Difu-Magazin Berichte 1/2023 erscheinenden Textes