Tischkicker mit Spielfiguren in roten und blauen Trikots
Standpunkt

Europa ist kein Luxus: If you're not at the table, you're on the menu

Sich in Europa zu vernetzen ist für viele Kommunen in Deutschland immer noch keine Selbstverständlichkeit. Dabei gehören Kommunen dringend mit aufs Spielfeld! Nur so sind sie in der Lage, Gesetze, Fördermöglichkeiten und Regularien mitzugestalten.

Ein Beitrag von Dagmar Köhler

Saßen die deutschen Kommunen in der Vergangenheit meist auf der Zuschauertribüne des „Europa-Stadions“, so werden sie zunehmend Teil des Spiels. Und das ist gut so, denn ohne kommunale Beteiligung und Umsetzung sind die übergeordneten Ziele in den für die Zukunft wichtigen Bereichen Klimaschutz, Digitalisierung, Wirtschaft und Demokratie nicht zu erreichen.

Auch ohne direkt auf die Städte einzuwirken, schafft die europäische Ebene beständig neue Wege, mit der kommunalen Ebene zu arbeiten, Städte zu fördern – und zu fordern. Davon zeugt die wachsende Rolle von Kommunen in der Forschungsförderung, wie die fünf neuen „EU-Missionen“, die europäische Städteagenda sowie eine Vielzahl von Preisen und Awards für progressive Städte. Ohne kommunale Partner, Pilotstädte oder Städtenetzwerke an Bord ist die Projektförderung nahezu aussichtslos geworden. Auch die große Mehrheit der europäischen Verordnungen, Richtlinien oder Empfehlungen wirkt sich lokal aus. Meist werden diese über die Umwandlung in nationales Recht zur kommunalen Aufgabe.

Ist Europa ein Luxus-Thema, das sich deutsche Kommunen nicht leisten können?

Trotz direkter Auswirkungen für die Kommunen und gefüllter Fördergeldbeutel entfallen „Europa-Fragen“ im kommunalen Tagesgeschäft jedoch oft als erstes. Europa gilt schnell als Luxusthema, das man sich leisten können muss. Tatsächlich mangelt es vielen Kommunen an finanziellen wie personellen Ressourcen. Vor allem aber mangelt es an einer Vorstellung davon, was europäische Initiativen bewirken können.

Deutsche Kommunen bringen sich deutlich weniger in das europäische Handeln ein als unsere Nachbarn. Niederländische, italienische und spanische Städte aller Größenordnungen sind präsent. Sie generieren mit Hilfe europäischer Forschungsförderung bis zu 100 Euro Projektmittel vor Ort für jeden investierten Euro.

Europäische Netzwerke: Eine starke Stimme

Um Partner zu finden, treten die Städte europäischen Netzwerken bei. In den letzten Jahren hat die Zahl solcher Netzwerke deutlich zugenommen. Manche sind dauerhaft konstituiert, andere projektbezogen. Es gibt thematische Netzwerke, die Wirtschaft, Wissenschaft und öffentliche Hand zu einem Thema zusammenbringen. Andere Netzwerke repräsentieren dagegen einen Sektor, z.B. Industrie- oder Forschungsnetzwerke. Städtenetzwerke dienen den Kommunen als Plattform und auch als Lobby. So deckt EUROCITIES zum Beispiel die ganze Bandbreite kommunaler Themen ab, POLIS hingegen spezialisiert sich auf bestimmte Themen, in denen sich die jeweiligen Fachleute der Verwaltung austauschen. Daher dienen europäische Netzwerke den Kommunen auf ganz unterschiedliche Art und Weise:

  • An der Erfahrung anderer teilhaben

    Manche Maßnahmen, die in Deutschland noch Zukunftsmusik sind, wurden anderswo bereits umgesetzt – oder umgekehrt. Wie löst Rotterdam die Frage der Ladestationen für E-Fahrzeuge? Wie hat Stockholm Akzeptanz für die Citymaut geschaffen? Von den Erfahrungen anderer Städte mit neuen Lösungswegen können Kommunen als auch profitieren, wenn sie nicht in unmittelbarer Nachbarschaft liegen. In Arbeitsgruppen der Städtenetzwerke oder in gemeinsamen Projekten lernen Mitarbeitende der Kommunalverwaltung einander kennen und nehmen Anregungen aus den innovativsten Städten Europas mit nach Hause.

     
  • Rückendeckung und Stärkung erfahren

    Für Mitarbeitende in den Kommunalverwaltungen liefert ihr europaweites Netzwerk Expertise, Inspiration und – besonders wichtig – Rückenwind. Besonders schätzen sie den Rückhalt ihrer europäischen Kollegen, der sie ermutigt, Neues auszuprobieren und Widerstände vor Ort auszuhalten. Für Kommunen ist der europaweite Austausch eine Chance, sich mit Erfolgen zu präsentieren und Anerkennung zu ernten. Das poliert das Image und erhöht die Attraktivität als Arbeitgeber sowie Wohn- und Unternehmensstandort.

     
  • Von EU-Forschungsprojekten profitieren

    In Forschungsprogrammen wie „Horizont Europa“ fördert die EU Projekte, in denen sich Konsortien aus Forschung, Wirtschaft und Verwaltung verschiedener Länder bilden. Kommunen, Städte und Regionen erhalten Gelder für Projekte und Personal, um Forschungsergebnisse in der Praxis zu erproben und in Expertengruppen Erfahrung zu diskutieren und Empfehlungen zu erarbeiten. Dresden hat zum Beispiel über das EU-Projekt „Ch4llenge“ zusätzliche Ressourcen für die Arbeit am Verkehrsentwicklungsplan generiert. Barcelona hat sich mit Hilfe von EU-Projekten zu einer Vorreiterstadt im urbanen Lieferverkehr etabliert. Neben finanziellen und personellen Ressourcen bieten EU-Projekte einen Rahmen, um innovative Lösungen zu erproben.

     
  • Gehör in der EU-Gesetzgebung finden

    Über Städtenetzwerke kommunizieren Kommunen gemeinsam ihre Bedarfe, Probleme und Grenzen – zum Beispiel, wenn an neuen Gesetzen, Richtlinien oder Förderprogrammen gearbeitet wird. Das ist sehr wichtig, da Kommunen keine formelle Rolle im Gesetzgebungsprozess innehaben. Beispielsweise haben sich Städte auf Initiative Londons erfolgreich dafür eingesetzt, dass LKWs und Busse künftig mit mehr Rundumsicht gebaut werden, um für den europäischen Markt zugelassen zu werden.

Neues BBSR-Projekt hilft deutschen Kommunen bei der europäischen Vernetzung

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) unterstützt Kommunen bei der europäischen Ver­netzung beispielsweise im Rahmen des neuen vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) geförderten Projekts "Smart Cities befähigen". Bei der Auftaktkonferenz im Februar 2022 berichtete die niederländische Stadt Helmond, warum sie europäische Wege geht. Helmond gründete innerhalb des Städtenetzwerks POLIS die „Plattform für kleine und mittlere Städte“. Mit Hilfe europäischer Projekte und Netzwerke hat sich die Stadt international als Innovationsstandort für smarte Mobilität einen Namen gemacht. Gert Blom von der Stadtverwaltung nannte auf der Auftaktkonferenz des Projekts folgende Gründe für Helmonds europäisches Engagement:

  • EU-Projekte brächten Gelder und damit Ressourcen, um Prioritäten der Stadt voranzutreiben. Sie steigerten den Anreiz, Forschungsprojekte in der Praxis umzusetzen. 
  • Europäisches Engagement locke Investoren an und mache attraktiv für Nachwuchskräfte. 
  • Europäische Netzwerke stärkten die Stadt nach innen und außen und eröffnen den Zugang zu aktuellem Forschungswissen und anderen engagierten Städten. 
  • Im Verbund mit anderen werde die Stimme der Stadt auf europäischer Ebene gehört. So setzte sie sich erfolgreich für verpflichtende Geschwindigkeitsassistenzsysteme für Neuwagen in der EU ein. 

„If you are not at the table, you are on the menu“

Kommunen sind in den letzten Jahren auf der europäischen Bühne zunehmend präsenter und auch gemeinsam lauter geworden. Aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind deutsche Kommunen noch deutlich unterrepräsentiert. Um nicht von neuen Gesetzen, Regularien und Förderprogrammen überrascht zu werden, sollten die deutschen Kommunen deutlich umfangreicher als bisher von der ‚europäischen Zuschauertribüne aufs Spielfeld‘ wechseln und mitgestalten. Nur im engen Miteinander mit anderen Akteuren ist es möglich, den eigenen Bedarf adäquat zu formulieren und somit später auch in Gesetzen und Förderprogrammen berücksichtigt zu werden und vom Erfahrungs- und Wissensaustausch zu profitieren. 

Gert Blom von der Stadt Helmond zitiert dazu den Politiker Michael Enzi: „If you are not at the table, you are on the menu.“ Sinngemäß also: Wer nicht mit am Verhandlungstisch sitzt, wird zur Verhandlungsmasse.

Für die Bewältigung der Zukunftsherausforderungen werden die Kommunen dringend auf dem Spielfeld gebraucht. Auch die aktuelle Weltlage zeigt uns schmerzlich, dass die Zukunft nicht im Alleingang, sondern nur im Miteinander zu bewältigen ist. 

 

Vorabveröffentlichung des im Difu-Magazin Berichte 1/2022 erscheinenden Textes.