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Fokusthema Corona

Beteiligungskultur in der Krise?

Schon in „normalen Zeiten“ ist Beteiligung keine einfache Aufgabe. Doch wie kann in einer Zeit, in der sich alles neu darstellt, Routinen nicht greifen und möglicherweise Ressourcen fehlen, die gute Praxis der Beteiligung aufrechterhalten werden?

Ein Beitrag von Stephanie Bock und Bettina Reimann

Nicht nur Bund und Länder sind aktuell vollends damit befasst, die durch das Coronavirus ausgelöste Krise zu managen. Auch Städte, Gemeinden und Landkreise sehen sich vor unbekannten Herausforderungen, für deren Lösung bislang Erfahrungswerte fehlen. Corona wird die Welt nachhaltig verändern. Was das genau bedeutet, lässt sich nicht absehen – auch wir wollen deshalb keinen Blick in die Glaskugel werfen. Viel spannender erscheint uns das, was sich derzeit in den Kommunen und für die Menschen verändert und was diese Veränderung langfristig bedeuten mag. Wer darf in der Krise mitsprechen, Lösungen mitentwickeln und Möglichkeitsräume definieren? Wer ist aktiv dabei, wer wird gefragt? Und wie wirken sich die aktuellen, pandemie-bedingten Einschränkungen auf die Bürger*innen- und Öffentlichkeitsbeteiligung sowie auf die in den Kommunen vorhandenen Möglichkeiten demokratischer Teilhabe aus? Uns bewegen dabei vor allem die Fragen, wie sich die kommunale Beteiligungskultur in der Krise gestaltet und ob Beteiligung durch die Krise selbst eine Krise erfährt.  

Status quo: Experten beraten Politik

Der Blick in die Medien – egal ob Print, Fernsehen, Podcast oder andere digitale Kanäle – zeigt: Politikberatung ist derzeit eine Aufgabe von Experten. Es mutet fast wie eine Reise in die Vergangenheit an: Überwiegend ergraute Herren mit akademischen Titeln sprechen und geben Rat. Unmittelbar Betroffene (z.B. Schüler*innen, Pflegepersonal, Erzieher*innen oder „ganz normale“ Bürger*innen) werden mit ihren Alltagserfahrungen und ihrer Expertise nicht einbezogen. Ihre Mitsprache ist nicht vorgesehen, ihre Vorschläge zu bedarfsorientierten Lösungswegen sind nicht gefragt. Dass es viele Vorschläge gibt, zeigt die Welle von Unterstützung, die sich in den Nachbarschaften insbesondere für diejenigen ausgebreitet hat, die unter den Folgen der Krise am meisten leiden. Allerorts sprießen kreative Ideen aus dem Boden, viele Menschen helfen, soweit es ihnen möglich ist, und die Zivilgesellschaft organisiert nicht zum ersten Mal – erinnert sei an die „Flüchtlingskrise“ vor wenigen Jahren – Unterstützung. Dieses eher inoffizielle, ehrenamtliche und aus eigener und nachbarschaftlicher Initiative erwachsene Engagement steht allerdings bei Weitem nicht so stark im Fokus der Medien und der politischen Überlegungen wie die politikberatende Expertise und die offiziellen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung.

Boom der Online-Formate

Planungen zu Bau- und Infrastrukturvorhaben zeigen beispielhaft, wie die Einschränkungen im öffentlichen Leben die informelle und formelle Beteiligung vor große Herausforderungen stellen. Denn die gängigen Formate für Kommunikation und Bürgerbeteiligung, beispielsweise Workshops, Runde Tische oder andere, auf Präsenz ausgerichtete Dialog-Formate, sind gegenwärtig nicht mehr oder nur noch in grundlegend veränderter Form möglich. Doch die Pandemie muss kein Grund sein, die Kommunikation und Partizipation bei Planungs- und Infrastrukturprojekten einzustellen. Neue, insbesondere digitale, Formate und Vorgehensweisen eignen sich ebenfalls, einen transparenten, konstruktiven und zielorientierten Dialog beizubehalten bzw. neu zu entwickeln. Im Rahmen der formellen Beteiligung werden die Auslegung von Antragsunterlagen sowie Erörterungstermine derzeit neu konzipiert und telefonische oder Online-Angebote der Informationsweitergabe sowie Videokonferenzen kommen zum Einsatz. Ein aktueller Gesetzentwurf des Bundes sieht u.a. die Möglichkeiten vor, Unterlagen oder Entscheidungen durch eine Veröffentlichung im Internet auszulegen, für verbindliche Erörterungstermine Online-Konsultationen einzuführen, Verhandlungen oder Antragskonferenzen mündlich zu führen und den Bürger*innen die Gelegenheit zur schriftlichen oder elektronischen Stellungnahme zu geben.

Die Sternstunde der Digitalisierung stimmt optimistisch. Nicht zuletzt sind damit auch neue Chancen für die Beteiligung verbunden – wer sich bisher nicht traute oder nicht so recht wusste, wie mit der Online-Beteiligung umzugehen ist, wendet diese jetzt, mangels Alternativen, „einfach“ an, experimentiert und sammelt “learning by doing“ wertvolle Erfahrungen. Dies gilt sowohl für diejenigen, die zur Beteiligung einladen, als auch für die Teilnehmenden. Die Zukunft wird zeigen, ob Online-Beteiligung alleine auf Dauer ein Standbein sein kann oder ob es, wie zumindest vor der Krise übereinstimmend eingeschätzt, perspektivisch einer adäquaten Verknüpfung von On- und Offline-Beteiligungsangeboten bedarf. Zudem muss sich erst noch erweisen, wie es den Kommunen gelingen kann, den Sprung in die digitale Welt zu meistern. Unseres Erachtens kann eine ausschließlich digitale Beteiligung nur in der akuten Phase der Kontaktsperre eine Lösung sein. Denn wie die Erfahrungen mit Homeschooling bereits eindrucksvoll zeigen, ist ein rein digitaler Zugang solange keine Lösung, wie Menschen ohne Internetzugang und ergänzende Unterstützung ausgeschlossen sind.

Beteiligung vieler Stimmen erforderlich

An laufenden Planungsvorhaben online zu beteiligen, ist jedoch nur eine der Perspektiven kommunaler Beteiligungskulturen. Die Debatte um Bürger*innenbeteiligung, um die Zukunft der Demokratie ist schon weiter. Schon länger ist klar, dass der Vielfalt von Lebenslagen und Überzeugungen in den politischen Prozessen eine Stimme gegeben werden muss, um neue Herausforderungen zu meistern und passende Konzepte zu entwickeln. Wann, wenn nicht jetzt, wann, wenn nicht in der Krise, gilt es, das umzusetzen, was bisherige Erfahrungen mit Bürger*innenbeteiligung zeigen?! Dass nämlich Politiker*innen beim Finden guter Lösungen auf das Wissen der Bürger*innen angewiesen sind. Folgt man dieser „Einsicht“, sollten sich Kommunen (weiterhin) als Laboratorien demokratiefördernder Bürger*innenbeteiligung verstehen und neue Formate anbieten, in denen gemeinsam kulturelle, soziale und institutionelle Erneuerungen für die Wege aus und nach der Krise entwickelt werden können. Hier ist an die Erfahrungen mit neuen Formen lokaler Kooperationen mit der Zivilgesellschaft und der Beteiligung der Bürger*innen anzuknüpfen. Im Rahmen kommunaler Beteiligungskultur, die mehr umfasst als das Angebot an die Bürger*innen, ihre Stimme abzugeben, sich also nicht in „frontalen“ Informations- und Frageveranstaltungen und passiver Teilnahme erschöpft, geht es um die gemeinsame Gestaltung und die gemeinsame Aushandlung von Themen rund um die zukunftsfähige und damit auch widerstandsfähige Stadt.  

Bürger*innenräte: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die jetzige Krise scheint also mehr als ein triftiger Grund für eine stärkere Einbindung von Bürger*innen zu sein. War zu Beginn die Zustimmung und Akzeptanz der gewählten Maßnahmen groß, so äußert eine wachsende Zahl an Menschen in Anbetracht der Dauer der mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen ihre Unzufriedenheit und ihren Protest. Nur vermuten lässt sich derzeit, dass ein Teil des wachsenden Unverständnisses auch auf eine unzureichende „kommunikative Mitnahme“ und fehlende konkrete Beteiligung der Betroffenen zurückgeführt werden kann.    

Dass vor Ort ad hoc Lösungen gefunden werden können, zeigen zahlreiche Beispiele von Nachbarschaftsnetzwerken eindrücklich. Mit Blick auf die Entwicklung von langfristig tragfähigen Wegen aus und nach der Krise sollten die Verantwortlichen in Politik und Kommunen die Menschen nicht nur informieren, sondern aktiv einbinden und in die politischen Diskussionen einbeziehen. Ihr vielfältiges Wissen, ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Interessen gilt es zusammenzutragen und zu bündeln. Dass dies gelingen kann, zeigen die guten Erfahrungen mit der Öffentlichkeitsbeteiligung an komplexen Großprojekten, beispielsweise im Stromnetzausbau. Warum nicht auch bei dieser neuen Zukunftsaufgabe Bürger*innenräte gründen, die – mit gelosten Personen besetzt – gemeinsam über Schlussfolgerungen für das Leben nach Corona diskutieren und Vorschläge für die Politik erarbeiten? Vorbilder gibt es bereits. So haben die Mitglieder des französischen Klima-Bürgerrates „Convention Citoyenne pour le Climat“ am 9. April 2020 50 Vorschläge zur sozialen und ökologischen Überwindung der Corona-Krise an Präsident Emmanuel Macron sowie an Regierung und Parlament geschickt. Ähnlich könnten Bürger*innenräte auch in deutschen Kommunen wirken.

Beteiligung: systemrelevant!

Bürger*innenbeteiligung stärkt das System. Obgleich Bürger*innenbeteiligung kein Universalheilmittel ist und politische Entscheidungsträger*innen zentrale Akteure bleiben, aus den Erfahrungen mit kommunalen Beteiligungskulturen können wir alle lernen und einen offenen Raum für Kommunikation und Diskussion schaffen. Beteiligung ist keine Schönwetter-Maßnahme. Gerade in Krisenzeiten geht es darum, die Lernfähigkeit der Systeme nachhaltig zu stärken und Partizipation zu ermöglichen. Die Rolle der Städte, Gemeinden und Landkreise gestaltet sich dabei nicht gerade einfach. Auf der einen Seite sollen sie Sicherheit geben und den Rahmen fixieren. Auf der anderen Seite geht es darum, für die Anpassungsprozesse Flexibilität und Offenheit herzustellen und Möglichkeitsräume zu eröffnen. Ob dies eine paradoxe Anforderung ist oder eine notwendige Voraussetzung für Resilienz, muss sich zeigen. Wir gehen davon aus, dass Beteiligungsprozesse, die Experimente, Offenheit und Spontanität zulassen, im Prozess des Umgangs mit der Krise zwar schwierig sind, weil sie nur bedingt plan- und steuerbar sind und phasenweise durchaus chaotisch verlaufen. Wir erachten sie gleichwohl als unerlässlich und sehen darin „die“ Chance für den Umgang mit der Krise.

Der Beitrag ist in leicht gekürzter Form abgedruckt in: Stadt und Krise: Gedanken zur Zukunft. Difu-Berichte Sonderheft, Juni 2020.

 

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