Neue Zukunftsbilder statt ständige Krisenrhetorik
Wenn eine überregionale konservative Tageszeitung eine gesamte Ausgabe unter die Überschrift „Zukunft gestalten – Die großen Fragen unserer Zeit“ stellt und darin Transformations- und Nachhaltigkeitsthemen problematisiert, ist das bemerkenswert. Denn politischer Konservatismus zielt im Wortsinn auf die Bewahrung bestehender Institutionen und Prozesse. Für manche gilt die Wiederherstellung des Status-quo ante als Patentrezept, um wirtschaftliches Wachstum und vermeintliche politische und soziale Stabilität wiederzuerlangen. Begriffe wie „Transformation“ und „Nachhaltigkeit“ gelten als Reizworte und werden infrage gestellt.
Dies gibt Anlass, grundsätzlicher darüber nachzudenken, wie wir über gesellschaftliche Reformprozesse und den Umbau kommunaler Infrastruktursysteme politisch debattieren. Mit Blick auf das permanente Krisen-Lamento in Politik, Medien und Öffentlichkeit entsteht der Eindruck, dass die Umsetzung sozialer Veränderungen gerade hierdurch ausgebremst wird.
„Krise“ begegnet uns überall – sei es die Krise der Kommunalfinanzen, der Sozialsysteme, der Demokratie, die wirtschaftlichen Verwerfungen durch geopolitische Spannungen, die Infrastruktur- oder Klimakrise. Eine Krise ist „eine kritische Situation (altgriechisch krisis (κρίσις) und lateinisch crisis)“, die „im Allgemeinen einen Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System“ darstellt. Manfred G. Schmidt beschreibt Krisen so als zeitlich kürzere Situationen, denen eine massive und problematische Funktionsstörung vorausgeht. Solche Situationen bieten sowohl Chancen zur Konfliktlösung als auch Risiken der Verschärfung. Der vielfach bemühte Begriff der „Polykrise“ suggeriert eher eine Zuspitzung. Dabei haben sich viele Herausforderungen jedoch über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut.
Der inflationäre Gebrauch des Krisenbegriffs hat ungute Folgen: Wenn alles und überall Krise ist, wachsen nicht nur gesellschaftliche Verunsicherung, Misstrauen und Enttäuschung. Es sind vor allem individuelle Abstiegs- und Verlustängste, die sich inzwischen in lautstarker Wut manifestieren und vor allem von populistischen Kräften bedient werden. Der öffentliche Diskurs wird von einer „Bubble“ des Schlechtredens dominiert. Und dies, obwohl wir vor allem aufgrund eines Effizienzparadigmas über Jahre hinweg selbst unsere Systeme der Daseinsvorsorge bis an den Rand ihrer Funktionsfähigkeit „restrukturiert“ haben. Die Diffusität und scheinbare Selbstblockade des politischen Systems, die sich aus der wachsenden Parteienverdrossenheit einer Mehrheit einerseits und den bewussten Normalitätsverzerrungen lautstarker Interessenvertretungen andererseits speist, begünstigt nun aber eine Politik, die existenzielle Herausforderungen wie den Klimawandel depriorisiert oder gar gänzlich leugnet.
Das Paradox: Auch die sozial-ökologische Transformationsbewegung in Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft verfällt zunehmend in Resignation. Grund hierfür sind die bisher vermeintlich geringen Fortschritte, obwohl doch spätestens seit 1972 die Fakten zu den „Grenzen des Wachstums“ bekannt sind. Einzelne Beobachter sprechen gar von einer tiefgreifenden „Systemkrise“ (Philipp Staab 2025), wonach gängige Modernisierungsversprechungen und Steuerungsversuche des Staates zur Krisenbewältigung delegitimiert werden. Dabei sind Politik und Verwaltung schon aus ihrer Eigenlogik heraus kaum in der Lage, permanent grundlegende Wendungen zur Lösung all der vermeintlichen Krisen herbeizuführen. Denn Verwaltung arbeitet auf Basis des Legalitätsprinzips und politischer Mandate evolutionär statt revolutionär, ähnlich wie der politische Prozess, der auf Kompromissfindung ausgerichtet ist.
Wie schwer sich Politik in diesen Zeiten tut, offenbaren die inzwischen rund 30 Sondervermögen des Bundes: Um Versäumnisse der vergangenen Jahre im militärischen und zivilen Bereich zu korrigieren, werden finanzielle Mittel in einem vorher nie dagewesenen Ausmaß in Extrahaushalten mobilisiert. Eine Aufbruchstimmung will – gerade auch bei den Kommunen – trotzdem nicht Einzug halten: „zu wenig“, „zu kompliziert“, „zu langsam“, „zu konsumtiv“, „zu wenig fokussiert und wirkungsorientiert“ lautet die Kritik. Wenn infrastrukturelle Defizite und soziale Unwuchten erst einmal ein bestimmtes Ausmaß erreicht haben, lassen sie sich mit Geld nur bedingt abbauen. Die Finanzlage der Kommunen ist mit einem geschätzten Finanzierungsdefizit in diesem Jahr von rund 30 Mrd. Euro ohne Frage historisch beispiellos. Nicht-monetäre Investitionshemmnisse – von Fachkräftebedarfen in den Verwaltungen über hohe Rechtsstandards, Engpässe in der Bauwirtschaft, wechselnde politische Mehrheiten etc. – tun ihr Übriges.
Noch mehr Transformation? Bloß nicht! Eine Idee, eine Vision oder gar ein Plan zur Auflösung dieser schwierigen Lage? Ebenfalls Fehlanzeige. Mit dem Schlecht- und Krisengerede des politischen Mainstreams und seiner populistischen Echokammern auf der einen Seite und der Radikalisierung von Teilen der Politik und Zivilgesellschaft auf der anderen Seite, erleben wir inzwischen einen paralysierten Diskurs, der sich selbst im Wege steht. Denn nicht nur die Rezepte der Vergangenheit („Hebung von Effizienzgewinnen“, Aufgaben- und Sozialleistungskürzungen, Verzicht auf freiwillige Aufgaben, Bürokratie- und Standardabbau) klingen inzwischen wie hohle „Bullshit-Bingo“-Phrasen. Auch der Verweis auf wissenschaftliche Evidenz als alleinige Begründung für die Notwendigkeit radikaler Reformen vermag nicht zu überzeugen.
Mit Blick auf diese scheinbar verfahrene Gemengelage stellt sich die Frage nach möglichen Auswegen. Sollen wir die Transformation tatsächlich begraben? Oder erfordert der sich beständig erwärmende Planet eine noch kompromisslosere Verfolgung von Klimazielen und „Wendeprojekten“? Die Wahrheit liegt – wie oft – in der Mitte. Politische Interaktion gelingt nur im Wege der Kommunikation. Um Wut, Resignation und Ängste kommunikativ zu adressieren, muss Politik die eigenen Kommunikationsmuster grundlegend reflektieren. Dabei kann die Erkenntnis helfen, dass alle Akteure des politischen Diskurses aufgrund ihrer jeweiligen Rolle und Sozialisation für sich immer mehr oder weniger gute Gründe haben so zu argumentieren, wie sie es tun (Armin Nassehi 2024). Die daraus fast schon naturgesetzmäßig resultierenden Kommunikationsbarrieren lassen sich nur durch Kommunikation auflösen. Politik muss kleinteiliger und zugleich langfristiger kommunizieren. Investitionen und Einsparungen müssen klar städtischen Zielen dienen. Mit abstrakten Verweisen auf die jahrzehntelang bemühten Narrative von den „Schuldenbergen der Enkel“ oder der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ lassen sich individuelle Abstiegs- und Verlustängste im Hier und Jetzt nicht einfangen.
Unserem Krisenrausch müssen wir berauschende Zukunftsbilder entgegensetzen: In welcher Stadt wollen wir 2035 oder 2040 leben? Was macht kommunale Lebensqualität in einem „nervösen Zeitalter“ aus (Andreas Reckwitz 2017)? Was sind die Prioritäten und Maßnahmen, mit denen wir unsere Zukunftsbilder schrittweise und über Legislaturperioden hinweg erreichen? Wie können und müssen wir dafür ggf. – im Verbund von Bund, Ländern und Kommunen – den Rechtsrahmen und die Finanzausstattung so anpassen, dass die Kommunen entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten erhalten? Unser politischer Diskurs muss daher gleich auf verschiedenen Ebenen neu ausgerichtet und in unterschiedlichen Formaten geführt werden – von der Staatsreform bis zum Bürgerdialog im Quartier. Hierin besteht die eigentliche Herausforderung: die Vielzahl der inzwischen bestehenden Baustellen und deren Vernetztheit. Gerade weil die Kommunen finanziell unter Druck stehen, reicht der alleinige Ruf nach Geld nicht aus. Um ihre berechtigten Forderungen geltend zu machen, müssen sie bottom-up eigene Zukunftsbilder formulieren und ihre Vorschläge an Bund und Länder richten. Tabus sind dabei tabu. Angebote könnten von Formen interkommunaler Zusammenarbeit über Aufgabenübertragungen an Land und Bund im Bereich der Sozialleistungen, einer Zentralisierung der Digitalisierung oder ohnehin bundesweit zu erbringender Verwaltungsaufgaben bis hin zum Neudenken kommunaler Selbstverwaltung im föderalen Bundesstaat reichen. Durch einen solchen Aufgabentausch gilt es, neue Gestaltungsspielräume für die Stadt 2035 zu eröffnen.
Wir müssen raus aus der argumentativen Gummizelle, in der uns Gegenargumente blockieren (Aufgabenpflicht, Selbstverwaltungsautonomie, Finanz- und Personalnot, fehlende Zuständigkeit, vermeintlicher Bürgerunwille, Beihilferecht, Brandschutz, eigene Kirchturmspitze etc.). Dazu müssen wir die kommunikativen Argumentationsmuster der Populisten verstehen, die Transformation, Nachhaltigkeit und bereits kleinere Reformen infrage stellen oder diskreditieren. Aber auch in unserer "Transformationsbubble" müssen wir die Kommunikation überdenken. Wenig sinnvoll ist es, mit komplexen Klimamodellen Ohnmachtsgefühle zu erzeugen. Stattdessen braucht es ein neues „Framing“ und verständliche Kommunikationsformen zu konkreten Zukunftsthemen, mit denen die Lebens- und Umweltqualität für Stadt, Quartier und Mensch verbessert wird.
Vorabveröffentlichung aus dem Difu-Magazin Berichte 4/2025