Foto: ein Fahrrad auf einem temporären Radweg in Nahaufnahme
Fokusthema Corona

Radverkehr im Ausnahmezustand. Mit Rückenwind aus der Krise?

Die Corona-Krise führt zu veränderten Mobilitätsroutinen und einem nie dagewesenen Bewusstsein, dass Zufußgehende und Radfahrende mehr Platz brauchen. Kommunen haben nun die Möglichkeit, die neue Normalität zu gestalten.

Ein Beitrag von Tobias Klein, Dagmar Köhler, Thomas Stein und Edwin Süselbeck

Das Coronavirus verändert die Mobilität in deutschen Kommunen so abrupt wie noch nie. Plötzlich ist deutlich weniger Autoverkehr unterwegs und es wird sichtbar, wie ungleich der öffentliche Raum zwischen Menschen und Kraftfahrzeugen verteilt ist. Seit Beginn des Lockdowns haben zudem Home-Office, Home-Schooling und Online-Meetings Konjunktur. Unterwegs sein heißt plötzlich, das eigene Viertel und die eigene Stadt zu entdecken.

Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen und Organisationen wie die WHO fordern die Menschen auf, ihre Wege möglichst zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen. So könne beispielsweise das Fahrradfahren seine – gerade für die Phase des Lockdowns – positiven Effekte auf Gesundheit, Psyche, Gesellschaft und Umwelt zeitigen. Denn Radfahren ermöglicht individuelle Mobilität mit Abstand, fördert das Wohlbefinden und ist zudem platzsparend, kostengünstig, inklusiv und klimaschonend.

Das Fahrrad als krisenfestes Verkehrsmittel

Bereits in vergangenen Krisen hat sich das Fahrrad als widerstandsfähiges Verkehrsmittel bewährt. Nach schweren Erdbeben 2017 in Mexiko-Stadt und 2011 in Tokio erwiesen sich Fahrräder und Motorräder als die sichersten und effektivsten Verkehrsmittel. Die Ölkrise der 1970er Jahre brachte ikonische Bilder hervor, auf denen Menschen auf Autobahnen Rad fahren und spazieren gehen. In den Niederlanden verlor das Fahrrad seine große Bedeutung als Alltagsverkehrsmittel nie wieder. Gesellschaftlich getragen wurde dieser erste Bruch mit dem autozentrierten Verkehrssystem wegen seiner ökologischen Nebenwirkungen und der rasant gestiegenen Zahl der Verkehrstoten; er manifestierte sich schließlich in der zivilgesellschaftlichen Bewegung „Stop de Kindermoord“ („Stoppt den Kindermord“). Als Reaktion darauf initiierte die niederländische Regierung u.a. ein massives Radwegebauprogramm, das bis heute andauert. Ein nachhaltiger Effekt auf das Verkehrswachstum, die Zunahme der Kraftfahrzeuge und den Siegeszug des privaten Pkw blieb jedoch sowohl in den Niederlanden als auch im Rest der Welt aus.

Im Zuge der aktuellen Corona-Krise und den damit verbundenen Einschränkungen nahm auch der Verkehr deutlich ab. Insbesondere der ÖPNV verzeichnet massiv reduzierte Nutzerzahlen. Die Menschen sind stattdessen individuell unterwegs: Das Institut für angewandte Sozialwissenschaft ermittelte per Mobilitätstracking eine Zunahme der Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad und dem privaten Pkw. Einer Studie der TU Dresden zufolge fahren 40% der Befragten öfter mit dem Fahrrad. An vielen automatischen Radverkehrszählstellen in deutschen Städten werden aktuell Allzeit-Höchstwerte gemessen. In der Schweiz sind die zurückgelegten Kilometer mit dem Rad seit dem Lockdown um über 200% gestiegen.

Das Fahrrad erweist sich demnach während der Pandemie als besonders widerstandsfähig.

Radverkehrsförderung in der Krise

Kommunen weltweit fördern in der Krise den Radverkehr. Bogotá, Budapest, Montpellier und Paris haben in kurzer Zeit neue Radwege angelegt. In Deutschland setzt Berlin Maßstäbe: Binnen weniger Wochen wurden mehr als 10 Kilometer Fahr- oder Parkspuren in temporäre Radwege (sogenannte Pop-up-Bike-Lanes) umgewandelt. Mit dieser „pandemieresilienten Infrastruktur“ schließt Berlin Lücken im Radverkehrsnetz, ermöglicht größere Abstände zwischen den Radfahrenden und macht das Radfahren sicherer und angenehmer.

Foto: ein temporärer Radweg am Halleschen Ufer in Berlin
Pop-up-Radweg am Halleschen Ufer in Berlin

Einen Blick hinter die Kulissen gaben Peter Broytman, verantwortlicher Radverkehrskoordinator der Berliner Senatsverwaltung, und Felix Weisbrich von der Bezirksverwaltung Friedrichshain-Kreuzberg beim ersten Difu-Online-Dialog in Zusammenarbeit mit der Fahrradakademie. Übliche Planungs- und Umsetzungszeiträume von mehr als drei Jahren seien durch agile Verwaltungsverfahren auf „eine Woche nachdenken und eine Woche umsetzen“ reduziert worden. Zwischen dem Berliner Senat (berlinweite Planungsebene) und den Bezirken (lokale Umsetzungsebene) würden nun die potenziellen Strecken abgestimmt und nach Rücksprache mit der Polizei kurzfristig umgesetzt. Wichtige Grundlage seien dabei die standardisierten Planungsvorgaben, die „Regelpläne“. Mit dieser Schablone könne die Verwaltung schnell geeignete Straßen identifizieren und entsprechende temporäre Radwege errichten. Ein weiterer Vorteil: durch ihren temporären Charakter sei es möglich, mit den Pop-up-Bike-Lanes vorhandene oder zukünftige Radwegeplanungen ad hoc zu optimieren. „Es ist viel einfacher, eine Gelbmarkierung woanders hinzukleben und eine Bake zu verrücken, als eine feste bauliche Anlage zu verändern“, so Weisbrich. Das spare Planungskosten und beschleunige zukünftige Bauvorhaben. Ziel sei es, dass viele der temporären Radwege nahtlos in dauerhafte überführt werden. Mit dem Berliner Mobilitätsgesetz gebe es bereits einen weitreichenden politischen Beschluss für die Radverkehrsförderung. Während der Corona-Pandemie spielt diese Berliner Besonderheit allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Somit ist das Vorgehen auch für andere deutsche Kommunen grundsätzlich anwendbar. Viele von ihnen haben bereits Kontakt zu den Berliner Verantwortlichen aufgenommen; die nationale und internationale Resonanz auf den Difu-Online-Dialog verdeutlicht zudem das Interesse am Thema. Die „Regelpläne“ für Pop-up-Bike-Lanes liegen inzwischen auch auf Englisch und Französisch vor. Das Planungsbüro Mobycon hat einen mehrsprachigen Leitfaden gemeinsam mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg erstellt.

Für Schlagzeilen sorgen auch die temporären Begegnungs- und Fußgängerzonen in Wien. Durch die Fahrbahnumnutzung können vor allem in dicht bebauten Gebieten mit nur schmalen Gehwegen Zufußgehende einen ausreichenden Sicherheitsabstand einhalten. In den USA ist Oakland in Kalifornien Vorreiter. Hier wurden mittlerweile knapp 120 km „COVID Open Streets“ installiert. Das entspricht ca. 10 %  des städtischen Straßennetzes. Die Straßen sind zum Radfahren, Spazierengehen, Joggen, Spielen usw. freigegeben, der motorisierte Individualverkehr (MIV) ist nur noch für den Anliegerverkehr zugelassen.

Für mehr Sicherheit im Straßenraum fordern Kommunen (z.B. Köln) und Verbände (z.B. die Deutsche Umwelthilfe) Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts; das Bundesrecht verhindert dies derzeit. Im europäischen Ausland gehen Städte wie Brüssel und Mailand mit Tempolimits voran.

Auch günstigere Konditionen bei städtischen Fahrradverleihsystemen unterstützen das Fahrrad als krisensichere Mobilitätsoption. In vielen deutschen Städten (u.a. Berlin, Wuppertal und mehrere Städten im Ruhrgebiet) ist z.B. die Nutzung in der ersten halben Stunde kostenfrei, in London und Dublin nutzt medizinisches Personal das städtische Bike-Share-System kostenlos. Lastenradhändler*innen oder freie Lastenradinitiativen (z.B. Hilde in Hildesheim) verleihen zum Teil kostenlos ihre Räder für die Nachbarschaftshilfe oder an kleine Unternehmen, um diesen die Auslieferung ihrer Waren zu erleichtern. In vielen Kommunen (z.B. Dresden, Jena und Recklinghausen) werden zudem die Bedarfsampeln auf automatische Grünzeiten für Fuß- und Radverkehr umgestellt, um Infektionen über Druckflächen zu vermeiden.

Radverkehr nach der Krise

Die Corona-Pandemie eröffnet ein Möglichkeitsfenster für veränderte Mobilitätsroutinen. Nutzer*innen des öffentlichen Personennahverkehrs steigen auf das Fahrrad um. Bei geeigneten Distanzen kann der Radverkehr den in Prä-Corona-Zeiten übervollen ÖPNV entlasten und so Komfort und Sicherheitsabstände der verbliebenen Fahrgäste erhöhen.

In der Krise wird deutlich, wie wichtig aktive Mobilität für Luftreinhaltung und gesundheitliche Prävention ist. Fahrradfahren und Zufußgehen brauchen bessere Bedingungen, Sicherheit und Priorität in der Mobilitätsplanung. Verkehrsunfälle selbst sind mit über 3.000 Toten im Jahr 2019 eine dauerhafte Krise, die nicht nur Gesundheitssysteme belastet, sondern Menschen jeden Alters unmittelbar aus dem Leben reißt. Zufußgehende und Radfahrende sind überproportional gefährdet.

Der in der Krise verminderte Kfz-Verkehr ist ideal, um die Bedingungen für den Radverkehr kurzfristig zu verbessern.  Städte wie Berlin und Wien dienen dabei als Ideengeberinnen. Gute Verkehrsbedingungen sind entscheidend, damit sich Fahrradfahrende sicher fühlen und das Rad auch nach der Krise weiter nutzen.

Handlungsfähige Kommunen für starken Radverkehr

Für die Kommunen ist es wichtig, dass sie trotz wegbrechender Steuereinnahmen handlungsfähig bleiben. Ein möglicher „kommunaler Rettungsschirm“ muss den Radverkehr als nachhaltiges, krisensicheres, einkommensunabhängiges und für die öffentliche Hand vergleichsweise kostengünstiges Verkehrsmittel fördern. Im Umgang mit Verkehr und öffentlichem Raum benötigen Kommunen darüber hinaus erweiterte Regelungskompetenzen. Tempolimits und Flächenumwidmungen können auf kommunaler Ebene am besten entschieden werden.

Welche Verkehrsmittel die Menschen in der neuen Normalität der Corona-Pandemie wählen, hängt nicht zuletzt von der Prioritätensetzung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ab. Regierungen und Behörden aller Ebenen müssen sich jetzt mehr denn je zu klaren Zielen für nachhaltige Mobilität mit und nach COVID-19 bekennen. Städte, Gemeinden und Landkreise sind gut beraten, das Fahrrad als resilientes, krisenfestes Verkehrsmittel zu fördern und nachhaltige Mobilität mit sicherem Fuß- und Radverkehr zentral in Pandemie-, Exit- und Entwicklungsplänen zu verankern.

Der Beitrag ist in leicht gekürzter Form abgedruckt in: Stadt und Krise: Gedanken zur Zukunft. Difu-Berichte Sonderheft, Juni 2020.