Entwicklung neuer Funktionsmischung in Berlin

          Gutachten im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie, Berlin, erstellt von Günter Baasner (Baasner, Möller & Langwald); Heidede Becker, Robert Sander (Difu)
         
Gutachten im Auftrag
der Senatsverwaltung
für Stadtentwicklung,
Umweltschutz und
Technologie, Berlin, erstellt
von Günter Baasner
(Baasner, Möller &
Langwald); Heidede Becker,
Robert Sander (Difu)
Die Mischung städtebaulicher Funktionen als stadtentwicklungspolitisches Leitbild hat in der gegenwärtigen neuen Phase gesamtstädtischer Entwicklungsplanung einen hohen Stellenwert: Großes Gewicht wird unter anderem auf die stadträumliche Verflechtung von Wohnen, Arbeit, Politik, Bildung sowie Kultur gelegt. Wie Berlin im Rahmen seines Flächennutzungsplans von 1994 orientieren auch andere Großstädte wie Frankfurt am Main, Hamburg, München oder Heidelberg ihre Stadtentwicklungskonzepte an Leitzielen der Funktionsmischung und Verdichtung.

Untersuchungsauftrag und Arbeitsschritte
In der Untersuchung "Entwicklung neuer Funktionsmischung in Berlin" ging es vor allem darum, die im Flächennutzungsplan von 1994 neu dargestellten "Gemischten Bauflächen" M2 in ihrer Größenordnung und Potentialität zu erfassen. Darüber hinaus sollten die Tragfähigkeit des Konzepts Funktionsmischung weiter geprüft und Umsetzungsstrategien entwickelt werden. Die Untersuchungsergebnisse gründen sich auf mehrere Arbeitsschritte:

    eine Analyse zum Stand der Fachdiskussion,
 
eine Umfrage in deutschen Städten zur Planung und Realisierung funktionsgemischter Quartiere,
 
die Ermittlung der Integrationsfähigkeit und Mischungseignung gewerblicher Nutzungen anhand von Berliner Daten und Erfahrungswerten,
 
die quantitative und qualitative Untersuchung der Berliner M2-Flächen nach räumlicher Verteilung und Entwicklungspotentialen,
 
eine Analyse restriktiver Bedingungen am Beispiel von drei in Umsetzung befindlichen Bauvorhaben mit unterschiedlichen stadträumlichen und planungsrechtlichen Voraussetzungen sowie
 
Diskussionen im Rahmen eines Experten-Workshops zum Austausch von Praxiserfahrungen mit Programmen, Instrumenten und Organisationsformen.
 

Funktionsmischung in der Fachdiskussion
Die Auswertung veröffentlichter Untersuchungs-, Diskussions- und Erfahrungsberichte zeigt, daß einige wichtige Aspekte noch zu wenig Beachtung finden. Dazu gehören die räumliche Betrachtungsebene, die Zeitdimension, der informelle Sektor sowie Lücken im empirischen Wissen. Deutlich fehlen bisher Untersuchungen zur Entwicklung der Nutzungen in Stadtteilen über größere Zeiträume, so daß viele Argumente und Vorschläge zur Funktionsmischung auf Plausibilitätsannahmen und vereinfachten Bilanzierungen beruhen.

Neue Mischungskonzepte werden vor allem im Rahmen von Stadterweiterungen, großflächigem Stadtumbau und der Wiedernutzung von brachgefallenen Flächen und Gebäuden verfolgt, wobei sich Strategien und Maßnahmen je nach städtischem Entwicklungszusammenhang unterscheiden. Im Bestand stehen Stabilisierung und Erhaltung funktionsgemischter City-Bereiche im Mittelpunkt mit der besonderen Aufgabe der Sicherung von Wohnnutzung. Bei der Umstrukturierung und Wiedernutzung brachgefallener Industrie- und Konversionsflächen sowie Großinfrastrukturen (Industrie-, Zechen-, Hafen-, Schlachthof-, Bahn- und Militärflächen) geht es vor allem um die Entwick- lung einer standortadäquaten Nutzungsmischung. Im Neubau kommt bisher meist nur das engere Mischungsspektrum von Wohnen, Nahversorgung und Arbeiten zum Tragen, das nur in Ausnahmefällen auch mit sozialkulturellen und anderen Angeboten verbunden ist. Bei Konzepten zur Revitalisierung von Großsiedlungen wird vor allem auf die nachträgliche Integration von bis dahin fehlenden Nutzungen wie Zentrumsfunktionen und Dienstleistungen gesetzt.

Gebiets- und Projektbeispiele in anderen deutschen Städten
Die Umfrage zu funktionsgemischten Gebiets- und Projektbeispielen in zwanzig deutschen Städten bestätigt die wachsende Bedeutung des Leitziels Funktionsmischung bei der Planung neuer Stadtquartiere. Zehn Fallbeispiele aus neun Städten wurden genauer untersucht und dokumentiert.

Dabei handelt es sich um drei Neuplanungen auf bis dahin unbebauten Flächen:

  München-Arabellapark,
Freiburg-Rieselfeld,
Falkensee-Falkenhöh
 
und um sieben neue Quartiere auf Umstrukturierungsfläche:
 
  München-Riem,
Tübingen-Französisches Viertel,
Bottrop-Prosper III,
Hannover - Pelikan-Viertel,
Duisburg - Innenhafen,
 
davon zwei auf Flächen, bei denen es auch zu großen Teilen um den Erhalt bestehender Nutzungen geht,
 
  Hamburg-Harburg - Binnenhafen,
Ludwigshafen - Rheinufer-Süd.
 

Konzeption und Ausgangslage variieren bei den Fallbeispielen erheblich; allein die Größenordnung der Flächen schwankt zwischen zehn und 556 Hektar.

Sowohl der Stand der Fachdiskussion als auch die Umfrageergebnisse aus anderen deutschen Städten machen deutlich, daß die thematisierten Funktionsmischungskonzepte hinsichtlich der Art der bisherigen Nutzungsmischung weiterhin eher traditionell angelegt sind und keine qualitativ neuen Ansätze aufweisen. Generell ist ein Trend zu eher großmaßstäblichen Mischstrukturen auf Quartiersebene erkennbar. Die in vielen Beispielprojekten geplante oder in Teilen bereits realisierte Funktionsmischung bewegt sich überwiegend im herkömmlichen Rahmen der Mischung von Wohnen, Nahversorgung, sozialer Infrastruktur sowie Büro- und Dienstleistungsnutzung. Die Kategorie "neu" bezieht sich im wesentlichen auf veränderte Betriebsstrukturen, auf gewachsene Anteile tertiärer Nutzungen, auf gewandelte Standortprofile, auf die neuen Lebensstile der privaten Haushalte sowie auf veränderte Marktchancen und Hemmnisse.

Mischungseignung und Integrationsfähigkeit gewerblicher Nutzungen
Unter den Aspekten Verträglichkeit, Maßstäblichkeit und Zulässigkeit wurden für einzelne Wirtschaftssektoren Annahmen zu vertretbaren Betriebsgrößen getroffen; auf dieser Grundlage ließ sich pauschal errechnen, daß theoretisch rund 45 Prozent aller bestehenden Arbeitsplätze in Berlin für eine "feinkörnige" und zusätzlich noch einmal 25 Prozent für eine "grobkörnige" Mischung geeignet sind. Das ergibt insgesamt 70 Prozent aller Arbeitsplätze. Dabei entfällt mit fast drei Viertel der Hauptanteil auf den Dienstleistungssektor. Eine Verknüpfung der ermittelten Ar- beitsplatzzahl mit Erfahrungswerten hinsichtlich des Flächenbedarfs je Arbeitsplatz in den einzelnen Sektoren ergibt ein überschlägiges Flächenpotential von 26,5 Mio m² Bruttogeschoßfläche (BGF) für feinkörnige Mischung im Block und von 42,5 Mio m² BGF für grobkörnige Mischung im Quartier. Der durchschnittliche Flächenbedarf pro Arbeitsplatz beträgt 33 m² BGF. Daraus folgt, daß bei einem Verhältnis von 73,5 Prozent (BGF Gewerbe) zu 26,5 Prozent (BGF Neubau-Wohnen) die Zahl der Arbeitsplätze etwa der Zahl der Erwerbstätigen unter der Wohnbevölkerung entsprechen müßte.

Gebietsbeispiele für Funktionsmischung in Berlin

Gebiet

Lage in
der Stadt

Gebiets-
größe (ha)

Planungstyp

Quartier
Spittelmarkt

Potsdamer/
Leipziger Platz

Siemenstadt -
Paulsternstraße

Gewerbepark
Am Borsigturm

Wissenschafts-
und Technologie-
stadt Adlershof

Neue Vorstadt
Karow-Nord

Neue Vorstadt
Französisch
Buchholz

Rudower Felder

Wasserstadt
Oberhavel

Rummelsburger
Bucht

Biesdorf-Süd

"Alter Schlachthof"
Eldenaer Straße

Stadtteilzentrum
Hellersdorf

Marzahner
Promenade

Innenstadt

Innenstadt

Umfeld eines
Ortsteilzentrums

Umfeld eines
Ortsteilzentrums

Umfeld eines
Ortsteilzentrums

nordöstlicher Stadtrand

nordöstlicher Stadtrand

südlicher Stadtrand

Umfeld eines
Ortsteilzentrums

Innenstadtrand

Stadtrand

Innenstadtrand

östlicher Stadtrand

östlicher Stadtrand

5

95

55

15

420

98

51

45

206

130

142

50

31

36

Neuplanung

Neuplanung

Neuplanung/
Umstrukturierung

Umstrukturierung

Umstrukturierung

Neuplanung

Neuplanung

Neuplanung

Neuplanung/
Umstrukturierung

Neuplanung/
Umstrukturierung

Neuplanung

Neuplanung/
Umstrukturierung

Revitalisierung
einer Großsiedlung

Revitalisierung
einer Großsiedlung

Quelle: Baasner, Möller & Langwald; Deutsches Institut für Urbanistik

 

Weitere Informationen:
Dr.-Ing. Heidede Becker
Telefon: 030/39001-298

sander [at] difu [dot] de (Dipl.-Soz. Robert Sander
)
Telefon: 030/39001-267

Stadträumliche Verteilung und Neubauflächenpotentiale der M2-Flächen
Die gemischten M2-Bauflächen des Berliner Flächennutzungsplans (FNP) von 1994 sind als Flächen mit mittlerer (gegenüber den M1-Flächen mit hoher) Nutzungsintensität und -dichte definiert und entsprechend der Kategorien der BauNVO als Mischgebiet (MI) charakterisiert. Insgesamt wurden im FNP 94 knapp 3500 Hektar M2-Flächen ausgewiesen, die sich auf sehr unterschiedliche städtische Situationen beziehen. Nach der räumlichen Verteilung betreffen sie im wesentlichen die Außenbezirke und hierbei Neubauflächen. Der räumliche Schwerpunkt liegt mit mehr als der Flächenhälfte in den östlichen Außenbezirken, wobei allein auf den Nordostraum (Bezirke Pankow und Weißensee) 650 Hektar entfallen und damit ein Flächenanteil größer als die M2-Flächen in allen westlichen Außenbezirken dargestellt ist.

Um die Neubaupotentiale auf M2-Flächen genauer abschätzen zu können, wurde eine Kategorisierung nach idealtypischen städtebaulichen Situationen vorgenommen. Bei der Unterscheidung nach Bestandsflächen mit geringem Entwicklungspotential, Flächen für Ergänzung und Weiterentwicklung mit mittlerem Entwicklungspotential und Neubauflächen mit hohem Entwicklungspotential fällt auf, daß Schwerpunkte bei der Bestandssicherung in den westlichen Innenstadtbezirken und Schwerpunkte der Neuentwicklung in den östlichen Außenbezirken liegen.

Schlußfolgerungen und Empfehlungen
Das Leitbild nutzungsverflochtener und dichter Stadtstrukturen erfordert die Formulierung von konkreten Leitzielen nicht nur für städtische Teilräume, sondern auch für die Gesamtstadt und die Region. Die Komplexität des Ziels Funktionsmischung, die Vielfalt der Aufgaben sowie die Vielzahl der beteiligten Akteure verweisen auf die große Bedeutung begleitender und die Umsetzung von Mischungskonzepten stützender Strategien der Kooperation, Beratung und systematischen Vermarktung. Ein neu zu schaffendes Monitoring-System könnte in diesem Zusammenhang dazu beitragen, mischungsrelevante Entwicklungen in der Stadt laufend zu beobachten, exemplarische Verfahren zu recherchieren und Modellvorhaben vorzubereiten.

Es besteht weitgehend Konsens darüber, daß das planungsrechtliche Instrumentarium der Realisierung von Funktionsmischung grundsätzlich nicht im Wege steht und daß es noch offensiver genutzt werden kann. Konsens besteht in der Fachöffentlichkeit weiter darüber, daß ohne den Einsatz ergänzender Instrumente, wie vertragliche Regelungen, die Bauleitplanung mit einer Strategie der Funktionsmischung überfordert ist.

Im Rahmen einer vorsorgenden kommunalen Liegenschaftspolitik geht es vor allem darum, Schlüsselgrundstücke für Funktionsmischung zu sichern und auch in Berlin die strategischen Möglichkeiten kommunalen Grundbesitzes durch entsprechende planerische Festsetzungen wie unterschiedliche Strategien der Parzellierung (kleinteilig und bei entsprechendem Engagement des Investors auch größerem Grundstückszuschnitt) oder Investorenwettbewerbe offensiver zu nutzen.

Die von vielen Seiten geforderte Flexibilität und Offenheit (städte)baulicher Strukturen stößt im Neubau auf erhebliche praktische Probleme wegen unterschiedlicher Anforderungen für Büro- und Wohnraum, die zusätzliche Planungs- und Realisierungskosten verursachen. Positive Erfahrungen konnten bisher fast nur bei der Umnutzung gewerblicher Bestandsbauten gewonnen werden. Dennoch erscheint es wünschenswert, auch bei Neubauten in Einzelfällen abhängig von Standorteignung und (längerfristigen) Nachfragepotentialen punktuell Flexibilität von Grundrissen in die Planung einzubeziehen. Dies stößt allerdings bei hochverdichteten und hochspezialisierten Baustrukturen schnell an Grenzen.

Insgesamt bestätigen die Untersuchungsergebnisse die Schlüsselfunktion der Branchengruppen des Einzelhandels und konsumnaher Dienste für die Nutzungsmischung von Arbeiten und Wohnen, wobei sich hierfür vor allem Innenstadt- und Innenstadtrandgebiete eignen. Mit der architektonischen und städtebaulichen Qualität steht und fällt die Integrierbarkeit nicht nur von Büronutzung, sondern auch von verarbeitendem Gewerbe, das aber bei der Entwicklung von Mischgebieten keine tragende Rolle spielen kann.

Mischungsverträgliche Betriebe nach Mitarbeiterzahl

Branchengruppe

"feinkörnige" Mischung

"grobkörnige" Mischung

Verarbeitendes Gewerbe/
Baugewerbe
zwei Herangehensweisen:
a) 1-19 Mitarbeiter/innen, d.h. es wird eine Integration aller Kleinbetriebe (ohne Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen) gesehen
b) eigene restriktive Auswahl mischgebiets-verträglicher Kleinbetriebe mit 1-19 Mitarbeiter/innen [Mittelwert aus a) und b)]
1-19 Mitarbeiter/innen, d.h.: Kleinbetriebe aller Wirtschaftszweige (ohne Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen) sowie 1-199 Mitarbeiter/innen bei einer Auswahl mischungsverträglicher Betriebe

Einzelhandel

1-49 Mitarbeiter/innen, bei größeren Einheiten kann von "großflächigem Einzelhandel" ausgegangen werden (MK,SO)

Verkehr- und Nachrichtenübermittlung

50 Prozent der Arbeitsplätze werden pauschal als "mischungsfähig" angesehen. Eine differenziertere Bewertung ist nicht möglich, da sich das Personal zu großen Teilen aus Verwaltung (mischungsfähig) und Fahrpersonal (Zuordnung problematisch) zusammensetzt.

Dienstleistungen

1-99 Arbeitsplätze, da ansonsten die Maßstäbe auf Blockebene gesprengt werden keine Größenbeschränkung
Quelle: Baasner, Möller & Langwald; Deutsches Institut für Urbanistik