foto: eine rote Couch auf einer freien Fläche in der Stadt
Standpunkt

Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als Ziel

Die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" ist in aller Munde. Ist sie ein taugliches Leitbild für Politik und Wissenschaft oder ein leerer Signifikant zwischen Systematik und Zeitgeist?  

Der Terminus von der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" begleitet die gesellschaftspolitische Diskussion in Deutschland seit Jahrzehnten. Er ist positiv konnotiert. Vielleicht auch deshalb, weil er nicht eindeutig definiert ist. Gleichwertigkeit ist ein salomonischer Begriff. Wem es um Egalität geht, der betont den ersten Wortteil, wem es um die Funktionalität von Diversität geht, der stützt sich auf den zweiten, den relativierenden Wortteil. Bis heute ist das Postulat von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ein politischer Kompromissbegriff.

Was macht diesen Kompromissbegriff für die gesellschaftspolitische Diskussion aus? Seine Präzision ist es sicher nicht. Ein Zeitzeuge der Diskussionen in den 60er- und 70er-Jahren, der frühere Staatssekretär Werner Ernst, beschreibt das wie folgt: "Nun hat der Begriff der gleichwertigen Lebensbedingungen von sich aus keinen präzisen Inhalt, ja wenn man einmal in Gedanken Revue passieren lässt, was alles unter diesem Etikett geschrieben und gesagt ist, dann könnte man manchmal meinen, dass im Vergleich dazu die delphischen Orakel der alten Griechen ein Muster an Klarheit der Gedankenführung und der Präzision des Ausdrucks waren."

Die politikwissenschaftliche Diskurstheorie hat den Begriff des leeren Signifikanten entwickelt und Michael Mießner hat herausgearbeitet, dass es sich bei dem Begriff von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse um einen eben solchen leeren Signifikanten handelt.

Wenn ein Begriff in der Lage ist, eine Vielzahl von partikularen gesellschaftlichen Interessen zu vereinen, wird er als leerer Signifikant bezeichnet. Signifikanten werden diskursiv erarbeitet und bilden den kleinsten gemeinsamen Nenner der Diskussion ab. Umso mehr Aspekte unter einem Begriff subsumiert werden können, desto unspezifischer ist er. Deshalb der Name leerer Signifikant. Mit der Unbestimmtheit oder Unschärfe des Begriffs geht aber etwas Wesentliches einher. Er bietet Anlass für einen steten gesellschaftlichen Diskurs, der zwar möglicherweise durch ein hohes Maß an Kompromiss, aber im besten Fall auch durch ein hohes Maß an Innovation oder Fortschritt gekennzeichnet ist.

Mießner zeigt auf, dass sich der Begriff im raumordnungspolitischen Diskurs ohne nähere Präzision etabliert hat. Der verbleibende Interpretationsspielraum wurde so genutzt, dass Politik aber auch Wissenschaft ihre unterschiedlichen Positionen mit dem Begriff in Einklang bringen konnten.

Die zweite Hälfte der 60er- und die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts waren in der Bundesrepublik von einem Steuerungs- und Planungsoptimismus gekennzeichnet, der – geprägt durch den Keynesianismus – seinen Ausdruck in der großen Finanzverfassungsreform von 1969, dem novellierten Raumordnungsgesetz, dem Städtebauförderungsgesetz und dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz fand. Dazu passt eine Politik, die aktiv und steuernd auf eine Angleichung der Lebensverhältnisse abzielt.

Die 80er-Jahre waren – geprägt durch Supply-side economics und Monetarismus – gesellschaftspolitisch durch eine Rückbesinnung auf den Marktmechanismus gekennzeichnet. Dazu passte eine gewisse politische Leidenschaftslosigkeit und Skepsis gegenüber einer Politik, die sich steuernd der Angleichung der Lebensverhältnisse verpflichtet fühlt.

Die 90er- und 00er-Jahre standen im Zeichen der deutsch-deutschen Vereinigung. Alles war anders. Die Diskrepanzen zwischen den Ländern und Regionen Deutschlands brachten ganz neue Herausforderungen mit sich. Die Volkswirtschaft war von einer Rezession mit hoher Staatsverschuldung und hoher Arbeitslosigkeit geprägt.

Der Wandel des Staatsverständnisses war offensichtlich: Weg vom fürsorgenden Wohlfahrtsstaat hin zum vorsorgenden und aktivierenden Verantwortungsstaat. Brauchte die Raumordnungs- und Regionalpolitik nun ebenfalls eine Agenda 2010? Die Föderalismusreformen der 00er-Jahre weisen den Weg vom kooperativen zum konkurrenzorientierten Föderalismus. Die Rahmengesetzgebung wird abgeschafft, die zustimmungspflichtigen Gesetze werden reduziert und die Länder erhalten die ausschließliche Gesetzgebung bei Besoldung und Versorgung und sollen dadurch selbstverantwortlicher ihre Finanzausstattung gestalten.

Mischfinanzierungen – und damit zentrale Steuerungsinstrumente – werden zurückgeführt. Die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau wird abgeschafft. Die Schuldenbegrenzung des Grundgesetzes kennt zukünftig keine Investitionsklausel mehr.

Die Wissenschaft erkennt das veränderte gesellschaftliche Paradigma und stellt das Postulat der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auf den Prüfstand. Sie hält an dem Postulat fest. Aber sie betont sehr deutlich, dass einiges relativiert werden müsse. Ein Trend ist klar: Mehr Wettbewerb, weniger Staat, weniger Angleichung, mehr Unterschiedlichkeit.

Die Erfahrungen der Finanzkrise 2008/2009 relativieren bald den neoliberalen Mythos vom sich selbst überlassenen Marktmechanismus. Die europäischen Erfahrungen in der Finanzkrise zeigen die Krisenanfälligkeit regionaler Ungleichgewichte in einem harmonisierten Wirtschaftsraum.

Mit dem lang anhaltenden Aufschwung in Deutschland nimmt die Staatsverschuldung – nicht zuletzt durch die Niedrigzinspolitik der EZB – ab, die öffentlichen Haushalte erlangen wieder Gestaltungsspielräume und die Arbeitslosenzahlen sinken deutlich. Die Prinzipien der Agenda 2010 werden in Frage gestellt, Heimat wird als politisches Ziel entdeckt, der ländliche Raum bekommt in der politischen Diskussion mehr Aufmerksamkeit, wohingegen die Abstimmung mit den Füßen in Richtung Schwarmstädte geht.

Die Politik nutzt bei der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen die vollen öffentlichen Kassen des Bundes, um einen Kompromiss zu erkaufen, der alle Länder fiskalisch zufriedenstellt. Geld ist eine Chance für Kompromisse, aber Geld kann auch systematisch gute Lösungen verhindern. Im Bereich der Mischfinanzierungen findet ein Revival statt. Nachdem Mischfinanzierungen Anfang der 2000er-Jahre eingedämmt wurden, suchen die sprudelnden Steuereinnahmen des Bundes jetzt wieder Wege, um in die Länder- und Kommunalhaushalte zu fließen.

So falsch es war, die Mischfinanzierungen Anfang der 2000er-Jahre so radikal zu beschneiden, so unsystematisch werden sie jetzt wieder eingeführt. Wenn man die Instrumente der großen Finanzreform von 1969 mit dem vergleicht, was mit zwei Föderalismusreformen erst abgeschafft wurde und jetzt mit ziemlich viel ad-hoc-Stückwerk wieder hergestellt wird, muss man wohl feststellen, dass man es klüger bei dem belassen hätte, was Ende der 60er-Jahre unter dem Stichwort kooperativer Föderalismus in die Verfassung aufgenommen wurde.

Die Große Koalition hat eine politische Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" eingesetzt. Zusammensetzung und Themenschwerpunkte lassen vermuten, dass fiskalische Partikularinteressen und nicht systematische Fragen im Fokus stehen. Eine neue raum- oder regionalpolitische Agenda darf jedenfalls nicht erwartet werden.

Die Wissenschaft nimmt die veränderten Rahmenbedingungen in den 10er-Jahren zum Anlass, den Begriff der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse erneut zu bewerten. Staatliche Interventionen zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse werden jetzt wieder mit einer ganz neuen Selbstverständlichkeit eingefordert, bis hin zur Verankerung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als räumliche Variante des Sozialstaatsprinzips in Art. 20b des Grundgesetzes. Eine solche Forderung wäre im Zeitgeist der 00er-Jahre schlicht undenkbar gewesen.

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen verändern sich, und es ist eine wichtige Aufgabe von Wissenschaft, in ihren Analysen veränderten Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen und ggf. Lösungsvorschläge und Empfehlungen unter den neuen Bedingungen zu entwickeln. Aber Wissenschaft muss auch die Sinnhaftigkeit veränderter Rahmenbedingungen analysieren. Vor allem dann, wenn sie nicht unabweisbar, sondern ideologisch bedingt sind. Zeitgeist und Mainstream bilden jedenfalls keinen Rahmen, der zu einer Revision von Erkenntnissen und Empfehlungen zwingt.

aus: Difu-Magazin Berichte 1/2019