Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS),

Stadt und Bürgertum

Cover der Publikation

Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS), Bd. 2, 1998, 108 S., Deutsches Institut für Urbanistik 1998

Inhalt

Der thematische Schwerpunkt dieses IMS-Heftes ist dem Verhältnis von Stadt und Bürgertum in dem für diese Beziehung "klassischen" 19. Jahrhundert gewidmet. Dieter Hein, Privatdozent an der Universität Frankfurt/Main, analysiert mit bilanzierenden Anmerkungen den Ertrag langjähriger Forschungen, insbesondere entsprechender Forschungsschwerpunkte in Bielefeld und Frankfurt /Main. Zwei verschiedene Wege, so Hein, hat die Bürgertumsforschung beschritten. Dem einen liegt die Überlegung zugrunde, daß angesichts der sozialen Heterogenität bürgerlicher Sozialgruppen die Gemeinsamkeit eher in einem Ensemble übereinstimmender Werthaltungen und sozialer Praktiken, in einem spezifisch bürgerlichen Lebensstil, zu suchen sei. Das andere Konzept betont dagegen die allmähliche Herausbildung des modernen Bürgertums aus dem Stadtbürgertum der traditional-ständischen Gesellschaft und sieht die Kohäsionskräfte primär in der konkreten sozialen und politischen Interaktion der Bürger im städtischen Rahmen.

Gemeinhin anerkannt wird heute der unauflösliche Zusammenhang von Stadt und Bürgertum - nicht nur für das traditionale, durch ein spezifisches städtisches Bürgerrecht abgegrenzte und als eigener Stand konstituierte Bürgertum sondern auch für das moderne, nachständische Bürgertum. Die Stadt bildete dabei mehr als eine Bühne, auf der die in zunehmendem Maße durch überlokale, bald auch nationale Klassen- und Interessenbindungen, durch übergreifende Werthaltungen und politische Orientierungen verbundenen Bürger konkret agierten. Der Kommunikations- und Handlungsraum Stadt wirkte darüber hinaus als strukturbildender Faktor, der durch die Lebenszusammenhänge, die er stiftete, und durch die längerfristigen Kontinuitäten, in denen er stand, den Zusammenhalt der verschiedenen bürgerlichen Gruppen, ihr Wertesystem und ihre politischen Optionen nachhaltig beeinflußte.

Umstritten aber ist, ob und, wenn ja, wie lange der städtische Erfahrungsraum darüber hinaus eine die verschiedenen bürgerlichen Gruppen überwölbende soziale und politische Handlungseinheit zu stiften vermochte. War, wie die einen meinen, der dominierende Entwicklungstrend ein seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beständig fortschreitender innerbürgerlicher Differenzierungsprozeß, der die überkommene, ebenfalls stets prekäre Einheit des Stadtbürgertums auflöste und die verschiedenen, primär beruflich differenzierten bürgerlichen Gruppen des 19. Jahrhunderts freisetzte, oder muß die Entwicklung nicht vielmehr, wie die anderen betonen, schärfer nach unterschiedlichen Phasen differenziert werden?

Unübersehbar ist ferner, daß die durchweg stärkere Berücksichtigung des städtischen Kommunikations- und Handlungsraumes dazu geführt hat, mehr Licht auf das wirtschaftende Bürgertum fallen zu lassen und seine Stellung in der Gesamtformation deutlich höher zu gewichten. Es ging in den beiden bereits seit längerem intensiver erforschten Gruppen, den industriellen Unternehmern als einer dezidiert neuen bürgerlichen Fraktion und dem Handwerk als dem Kern des alten, nun mehr und mehr absinkenden Bürgertums, keineswegs auf. Bankiers, Kaufleute, Gastwirte, auch Handwerker aus den wirtschaftlich bessergestellten Gewerben stellten vielmehr in den meisten Städten die ökonomische Führungsschicht.

Daß diese wirtschaftlich führenden Kreise darüber hinaus auf der lokalen Ebene zumeist auch gesellschaftlich und kulturell den Ton angaben, hat zugleich nachhaltig die bisherige Sicht des deutschen Bildungsbürgertums als der homogenen Leitformation des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt. Denn neuere stadtbezogene Untersuchungen lassen daran zweifeln, ob das Bildungsbürgertum überhaupt als eine einheitliche soziale Gruppe verstanden werden kann. Sie markieren in der Regel scharf die Unterschiede zwischen dem beamteten Bildungsbürgertum im engeren Sinne und den freien Berufen sowie den zwar staatlich besoldeten, aber dennoch oft unabhängig auftretenden Gruppen wie den Pfarrern oder den Professoren. Ihre gesellschaftlichen und politischen Optionen differierten - so scheint es - stark, je nach den städtischen Rahmenbedingungen, in denen sie agierten.

Von nachhaltiger Bedeutung sind Revisionen dieser Art nicht zuletzt für die Einschätzung des Verhältnisses von modernem Bürgertum und Staat. Lange Zeit hat man dem deutschen Bürgertum seine einseitige Orientierung auf den Staat, seine ausgesprochene Staatslastigkeit vorgehalten. Damit korrespondierte eine Einschätzung der Rolle des Staates im Übergang zur Moderne, in der dieser praktisch in allen seinen Facetten als ein durch staatliche Reformen angestoßener und durchgeführter Prozeß erschien und in der die staatliche Reformbürokratie zur eigentlichen Vorhut der modernen bürgerlichen Gesellschaft erklärt wurde. Speziell der aus der traditionalen Gesellschaft "überkommene kleine und mittlere Stadtbürger" galt allgemein, wie es Dieter Langewiesche einmal formuliert hat, "als der Fußkranke des Fortschritts", als ein beharrendes Element, das sich besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die zähe Verteidigung altständischer Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen vor den tiefgreifenden Veränderungen zu schützen versuchte.

Hier hat die Thematisierung von Stadt und Bürgertum zusammen mit der allgemein stärker lokal- und regionalgeschichtlich fundierten Forschung wesentliche neue Erkenntnisse hervorgebracht. Nicht nur einzelne dezidiert moderne und eng mit dem Staat verbundene bürgerliche Gruppen formulierten Reformkonzepte und gaben Modernisierungsanstöße, sondern auch das Stadtbürgertum zeigte sich in vielfältiger Weise als innovativ, öffnete sich dem modernen Bildungsgedanken, betrieb eine moderne Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, setzte auf wirtschaftliche Expansion und forderte vehement politische Reformen, während sich der Staat in vielen Fällen als lediglich reagierender Faktor des Modernisierungsprozesses erwies.

Nach intensiver Erforschung des Verhältnisses von Stadt und Bürgertum stehen weiterhin unterschiedliche Auffassungen noch immer schroff neben- und gegeneinander. Die spezifische Vorgehensweise der stadtbezogenen Bürgertumsforschung bringt es mit sich, daß immer wieder ein lokales Beispiel in einer übergreifenden Argumentation durch ein anderes gekontert wird. Eine Annäherung dieser gegensätzlichen Standpunkte könnte sich möglicherweise dadurch einstellen, daß man sich auf unterschiedliche Stadt- und damit auch Bürgertumstypen, auf verschiedene "Bürgertümer" (Hans-Ulrich Wehler) verständigt.

Das IMS-Heft enthält zusätzlich zu den thematischen Beiträgen Tagungs-und Projektberichte sowie ständig wiederkehrende Übersichten, unter anderem über neue stadtgeschichtliche Literatur, über stadt- und kommunalgeschichtliche Lehrveranstaltungen, stadtgeschichtliche Sonderausstellungen und Stadtjubiläen.

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